Weihnachtsabend von Theodor Storm

An die hellen Fenster kommt er gegangen
Und schaut in des Zimmers Raum;
Die Kinder alle tanzten und sangen
Um den brennenden Weihnachtsbaum.
 
Da pocht ihm das Herz, daß es will zerspringen;
»Oh«, ruft er, »laßt mich hinein!
Was Frommes, was Fröhliches will ich euch singen
Zu dem hellen Kerzenschein.«
 
Und die Kinder kommen, die Kinder ziehen
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Zur Schwelle den nächtlichen Gast;
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Still grüßen die Alten, die Jungen umknien
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Ihn scheu in geschäftiger Hast.
 
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Und er singt: »Weit glänzen da draußen die Lande
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Und locken den Knaben hinaus;
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Mit klopfender Brust, im Reisegewande
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Verläßt er das Vaterhaus.
 
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Da trägt ihn des Lebens breitere Welle
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Wie war so weit die Welt!
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Und es findet sich mancher gute Geselle,
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Der's treulich mit ihm hält.
 
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Tief bräunt ihm die Sonne die Blüte der Wangen,
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Und der Bart umsprosset das Kinn;
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Den Knaben, der blond in die Welt gegangen,
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Wohl nimmer erkennet ihr ihn.
 
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Aus goldenen und aus blauen Reben
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Es mundet ihm jeder Wein;
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Und dreister greift er in das Leben
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Und in die Saiten ein.
 
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Und für manche Dirne mit schwarzen Locken
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Im Herzen findet er Raum;
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Da klingen durch das Land die Glocken,
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Ihm war's wie ein alter Traum.
 
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Wohin er kam, die Kinder sangen,
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Die Kinder weit und breit;
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Die Kerzen brannten, die Stimmlein klangen,
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Das war die Weihnachtszeit.
 
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Da fühlte er, daß er ein Mann geworden;
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Hier gehörte er nicht dazu.
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Hinter den blauen Bergen im Norden
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Ließ ihm die Heimat nicht Ruh.
 
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An die hellen Fenster kam er gegangen
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Und schaut' in des Zimmers Raum;
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Die Schwestern und Brüder tanzten und sangen
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Um den brennenden Weihnachtsbaum.«
 
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Da war es, als würden lebendig die Lieder
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Und nahe, der eben noch fern;
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Sie blicken ihn an und blicken wieder;
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Schon haben ihn alle so gern.
 
49 
Nicht länger kann er das Herz bezwingen,
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Er breitet die Arme aus:
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»Oh, schließet mich ein in das Preisen und Singen,
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Ich bin ja der Sohn vom Haus!«
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.7 KB)

Details zum Gedicht „Weihnachtsabend“

Anzahl Strophen
13
Anzahl Verse
52
Anzahl Wörter
323
Entstehungsjahr
1817 - 1888
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Weihnachtsabend“ wurde von Theodor Storm geschrieben, welcher im Jahr 1817 geboren wurde und im Jahr 1888 verstarb. Diese zeitliche Einordnung stellt Storm als eine zentrale Figur des deutschen Realismus dar.

Das Gedicht erzählt von einem weihnachtlichen Szenario, in dem eine Person von außen in ein beleuchtetes Haus blickt, in dem Kinder um einen Weihnachtsbaum tanzen und singen. Dieser äußere Beobachter fühlt ein starkes Verlangen, an der Szene teilzunehmen. Er möchte für die versammelte Gesellschaft ein fröhliches und frommes Lied singen, das zur festlichen Stimmung passt. Als die Gruppe ihn hereinlässt, erzählt er seine Lebensgeschichte. Er erzählt von seiner Reise durch das Leben, von Veränderungen, von Liebe und den Verlockungen der Welt. Als er die Kinder beim Weihnachtssingen hört, erkennt er seine eigene Veränderung und seine Sehnsucht nach Heimat. Er begibt sich zurück in das Haus, wo er als Sohn des Hauses liebevoll empfangen wird.

Die Aussage des lyrischen Ichs zeichnet ein Bild von Heimweh und dem Wunsch, seine Wurzeln zurückzuerobern, nachdem es gereift ist und die Welt erfahren hat. Es ist ein universelles Gefühl von Nostalgie und das Bedürfnis, zur Besinnlichkeit und Sicherheit der Kindheit zurückzukehren.

Das Gedicht weist eine klare Struktur auf, bestehend aus 13 Strophen mit jeweils 4 Versen. Storm nutzt einfache, fließende Sprache und bildhafte Beschreibungen, um das Gefühl von Sehnsucht und Heimkehr zu betonen. Trotz der einfachen Struktur erweist sich das Gedicht als komplex und tiefgründig. Die emotionale Resonanz, die durch die Reise des lyrischen Ichs hervorgerufen wird, zeigt Storms Fähigkeit, allgemeine menschliche Erfahrungen und Gefühle auf poetische Weise auszudrücken.

Weitere Informationen

Theodor Storm ist der Autor des Gedichtes „Weihnachtsabend“. 1817 wurde Storm in Husum geboren. Zwischen den Jahren 1833 und 1888 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Realismus zuordnen. Der Schriftsteller Storm ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 323 Wörter. Es baut sich aus 13 Strophen auf und besteht aus 52 Versen. Weitere Werke des Dichters Theodor Storm sind „Von Katzen“, „Weihnachtslied“ und „Das ist der Herbst“. Zum Autor des Gedichtes „Weihnachtsabend“ haben wir auf abi-pur.de weitere 131 Gedichte veröffentlicht.

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