Abschied von Theodor Storm

Kein Wort, auch nicht das kleinste, kann ich sagen,
Wozu das Herz den vollen Schlag verwehrt;
Die Stunde drängt, gerüstet steht der Wagen,
Es ist die Fahrt der Heimath abgekehrt.
 
Geht immerhin – denn eure That ist euer –
Und widerruft, was einst das Herz gebot;
Und kauft, wenn dieser Preis euch nicht zu theuer,
Dafür euch in der Heimath euer Brod!
 
Ich aber kann des Landes nicht, des eignen,
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In Schmerz verstummte Klagen mißverstehn;
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Ich kann die stillen Gräber nicht verleugnen,
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Wie tief sie jetzt in Unkraut auch vergehn. –
 
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Du, deren zarte Augen mich befragen, –
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Der dich mir gab, gesegnet sei der Tag!
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Laß nur dein Herz an meinem Herzen schlagen,
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Und zage nicht! Es ist derselbe Schlag.
 
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Es strömt die Luft – die Knaben stehn und lauschen,
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Vom Strand herüber dringt ein Mövenschrei;
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Das ist die Fluth! Das ist des Meeres Rauschen;
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Ihr kennt es wohl; wir waren oft dabei.
 
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Von meinem Arm in dieser letzten Stunde
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Blickt einmal noch ins weite Land hinaus,
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Und merkt es wohl, es steht auf diesem Grunde,
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Wo wir auch weilen, unser Vaterhaus.
 
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Wir scheiden jetzt, bis dieser Zeit Beschwerde
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Ein andrer Tag, ein besserer, gesühnt;
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Denn Raum ist auf der heimathlichen Erde
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Für Fremde nur, und was den Fremden dient.
 
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Doch ist’s das flehendste von den Gebeten,
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Ihr mögt dereinst, wenn mir es nicht vergönnt,
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Mit festem Fuß auf diese Scholle treten,
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Von der sich jetzt mein heißes Auge trennt! –
 
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Und du mein Kind, mein jüngstes, dessen Wiege
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Auch noch auf diesem theuren Boden stand,
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Hör’ mich! – denn alles Andere ist Lüge –
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Kein Mann gedeihet ohne Vaterland!
 
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Kannst du den Sinn, den diese Worte führen,
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Mit deiner Kinderseele nicht verstehn,
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So soll es wie ein Schauer dich berühren,
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Und wie ein Pulsschlag in dein Leben gehn!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27 KB)

Details zum Gedicht „Abschied“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
40
Anzahl Wörter
293
Entstehungsjahr
1853
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Abschied“ stammt von Theodor Storm, der vom 14. September 1817 bis zum 4. Juli 1888 lebte. Das Werk fällt zeitlich in die Epoche des Realismus.

Der erste Eindruck des Gedichts ist melancholisch und emotional, es scheint um den Abschied von einem geliebten Ort oder Menschen zu gehen und um die Trauer und Nostalgie, die ein solcher Abschied mit sich bringt.

Inhaltlich spricht das lyrische Ich von seinem Unvermögen, seine Gefühle durch Worte auszudrücken (Vers 1 und 2). Es deutet auf den bevorstehenden Abschied hin, indem es den abfahrbereiten Wagen und die Entfernung von der Heimat erwähnt (Vers 3 und 4). Die nächste Strophe spricht diejenigen an, die zurückbleiben, und bedauert, dass sie das tun, was ihr Herz ihnen nicht gebietet, vermutlich das Verharren in der Heimat (Vers 5 und 6). Im Folgenden betont das lyrische Ich seine tiefe Verbundenheit mit seiner Heimat, die sich auch in Anbetracht der Veränderungen nicht leugnen lässt (Vers 9 bis 12). Es spricht eine geliebte Person direkt an und betont ihre Verbundenheit, trotz der bevorstehenden Trennung (Vers 13 bis 16). Die folgenden Verse beschreiben die natürliche Schönheit der Heimat und rufen dazu auf, diese in Erinnerung zu behalten (Vers 17 bis 24). Das lyrische Ich betont die Entfremdung, die durch den Abschied entsteht, und hofft auf eine bessere Zukunft (Vers 25 bis 28). Es spricht den Wunsch aus, dass die Daheimgebliebenen eines Tages auch die Heimat verlassen werden, selbst wenn es dazu nicht selbst imstande ist (Vers 29 bis 32). Das lyrische Ich wendet sich zuletzt an sein jüngstes Kind und betont die Wichtigkeit der Heimat für die Identität und das Wohlbefinden (Vers 33 bis 36). Es beendet das Gedicht mit einer eindringlichen Aufforderung an das Kind, diese Werte zu verinnerlichen (Vers 37 bis 40).

In Bezug auf Form und Sprache folgt das Gedicht einem einfachen, jedoch emotiven Stil. Es besteht aus zehn vierzeiligen Strophen, wobei jede Zeile in freien Versen verfasst ist. Die Sprache ist bildreich und metaphorisch, beispielsweise drückt das „stille Grab“ die inneren Gefühle des lyrischen Ichs aus oder das „Mövenschrei“ und „Meeres Rauschen“ symbolisieren die Schönheit und Einzigartigkeit seiner Heimat. Es ist bemerkenswert, dass das Gedicht keinen Reim aufweist, was seine Ernsthaftigkeit und Natürlichkeit unterstreicht.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Abschied“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Theodor Storm. 1817 wurde Storm in Husum geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1853 entstanden. Erscheinungsort des Textes ist Berlin. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Realismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Storm ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das 293 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 40 Versen mit insgesamt 10 Strophen. Weitere Werke des Dichters Theodor Storm sind „Die Stadt“, „Juli“ und „Knecht Ruprecht“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Abschied“ weitere 131 Gedichte vor.

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