Ruhe und Ordnung von Kurt Tucholsky

Wenn Millionen arbeiten, ohne zu leben,
wenn Mütter den Kindern nur Milchwasser geben –
das ist Ordnung.
Wenn Werkleute rufen: „Laßt uns ans Licht!
Wer Arbeit stiehlt, der muß vors Gericht!“
Das ist Unordnung.
 
Wenn Tuberkulöse zur Drehbank rennen,
wenn dreizehn in einer Stube pennen –
das ist Ordnung.
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Wenn einer ausbricht mit Gebrüll,
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weil er sein Alter sichern will –
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das ist Unordnung.
 
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Wenn reiche Erben im Schweizer Schnee
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jubeln – und sommers am Comer-See –
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dann herrscht Ruhe.
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Wenn Gefahr besteht, das sich Dinge wandeln,
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wenn verboten wird, mit dem Boden zu handeln –
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dann herrscht Unordnung.
 
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Die Hauptsache ist: Nicht auf Hungernde hören.
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Die Hauptsache ist: Nicht das Straßenbild stören.
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Nur nicht schrein.
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Mit der Zeit wird das schon.
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Alles bringt euch die Evolution.
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So hats euer Volksvertreter entdeckt.
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Seid ihr bis dahin alle verreckt?
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So wird man auf euern Gräbern doch lesen:
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sie sind immer ruhig und ordentlich gewesen.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (25.8 KB)

Details zum Gedicht „Ruhe und Ordnung“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
27
Anzahl Wörter
147
Entstehungsjahr
1929
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das analysierte Gedicht heißt „Ruhe und Ordnung“ und wurde von Kurt Tucholsky verfasst, einem bedeutenden Journalisten und Schriftsteller in der Weimarer Republik, der von 1890 bis 1935 gelebt hat. Tucholsky ist bekannt für seine scharfsinnige Kritik am politischen und gesellschaftlichen Geschehen seiner Zeit, vor allem in Bezug auf Nationalismus, Militarismus und soziale Ungleichheit.

Auf den ersten Eindruck erscheint das Gedicht zynisch und sarkastisch, was sich durch die klare Kontrastierung des Begriffs „Ordnung“ mit tatsächlichen gesellschaftlichen Missständen zeigt. Hier thematisiert Tucholsky das Leiden der Arbeiterklasse und die Verschleierung von Ungerechtigkeiten unter dem Mantel der Ordnung und Ruhe.

Inhaltlich zeigt Tucholsky in einfacher, klarer Sprache die Gegensätze zwischen Armut und Reichtum, zwischen den Lebensverhältnissen der Arbeiterklasse und der Oberschicht. In drei Strophen wird jeweils ein Missstand der Gesellschaft geschildert, der ironisch als „Ordnung“ oder „Ruhe“ bezeichnet wird, während Forderungen oder Anstrengungen zur Verbesserung dieser Zustände als „Unordnung“ dargestellt werden. In der vierten Strophe stellt der Autor eine sarkastische „Hauptsache“ auf, wonach Veränderungen zur Verbesserung der Zustände unerwünscht sind und die geordnete Fassade gewahrt bleiben muss.

Formal bestehen die ersten drei Strophen jeweils aus sechs Versen, die letzte Strophe ist mit neun Versen jedoch länger. Die Sprache ist direkt und unverblümt, die Aussagen sind klar und pointiert. Die Wiederholung der Phrasen „das ist Ordnung“, „das ist Unordnung“ und „dann herrscht Ruhe“ bzw. „dann herrscht Unordnung“ verleiht dem Gedicht eine rhythmische Struktur und betont die Kontraste.

Zusammenfassend ist „Ruhe und Ordnung“ ein deutliches gesellschaftskritisches Gedicht, in dem Tucholsky pointiert die Missstände seiner Zeit anprangert und auf die sozialen Ungerechtigkeiten hinweist, die unter dem Deckmantel von „Ruhe und Ordnung“ verborgen werden. Das lyrische Ich stellt eine inständige Forderung nach Veränderung da, die von der Oberschicht und den politischen Machthabern allerdings oft als Störung der bestehenden Ordnung abgetan wird.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Ruhe und Ordnung“ ist Kurt Tucholsky. Im Jahr 1890 wurde Tucholsky in Berlin geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1929 entstanden. Erscheinungsort des Textes ist Berlin. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zu. Bei Tucholsky handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Der Erste Weltkrieg und die daraufhin folgende Entstehung und der Fall der Weimarer Republik hatten großen Einfluss auf die Literatur der Weimarer Republik. Die Neue Sachlichkeit in der Literatur der Weimarer Republik ist von distanzierter Betrachtung der Welt und Nüchternheit gekennzeichnet und politisch geprägt. Es wurde eine alltägliche Sprache verwendet um mit den Texten so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Die Freiheit von Wort und Schrift war zwar verfassungsmäßig garantiert, doch bereits 1922 wurde nach der Ermordung von Walter Rathenau das Republikschutzgesetz erlassen, das diese Freiheit wieder einschränkte. Viele Schriftsteller litten unter dieser Zensur. In der Praxis wurde dieses Gesetz allerdings nur gegen linke Autoren angewandt. Aber gerade die rechts gerichteten Schriftsteller waren es häufig, die in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Die Grenzen der Zensur wurden im Jahr 1926 durch das sogenannte Schund- und Schmutzgesetz nochmals verstärkt. Die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen wurden durch die Pressenotverordnung im Jahr 1931 ermöglicht.

Als Exilliteratur wird die Literatur von Schriftstellern bezeichnet, die unfreiwillig Zuflucht im Ausland suchen müssen, weil ihre Person oder ihr Werk im Heimatland bedroht sind. Für die Flucht ins Exil geben meist religiöse oder politische Gründe den Ausschlag. Die Exilliteratur in Deutschland entstand in den Jahren von 1933 bis 1945 als Literatur der Gegner des Nationalsozialismus. Dabei spielten zum Beispiel die Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933 und der deutsche Überfall auf die Nachbarstaaten Deutschlands 1938/39 eine ausschlaggebende Rolle. Die deutsche Exilliteratur schließt an die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik an und bildet damit eine eigene Literaturepoche in der deutschen Literaturgeschichte. Die Exilliteratur lässt sich insbesondere an den thematischen Schwerpunkten wie Sehnsucht nach der Heimat, Widerstand gegen Nazi-Deutschland oder Aufklärung über den Nationalsozialismus ausmachen. Bestimmte formale Merkmale lassen sich jedoch nicht finden. Die Exilliteratur weist häufig einen Pluralismus der Stile (Realismus und Expressionismus), eine kritische Betrachtung der Wirklichkeit und eine Distanz zwischen Werk und Leser oder Publikum auf. Sie hat häufig die Absicht zur Aufklärung und möchte gesellschaftliche Entwicklungen aufzeigen (wandelnder Mensch, Abhängigkeit von der Gesellschaft).

Das Gedicht besteht aus 27 Versen mit insgesamt 4 Strophen und umfasst dabei 147 Worte. Die Gedichte „An das Publikum“, „An die Meinige“ und „An einen garnisondienstfähigen Dichter“ sind weitere Werke des Autors Kurt Tucholsky. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Ruhe und Ordnung“ weitere 136 Gedichte vor.

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