All people on board! von Kurt Tucholsky

Das ist nämlich so in Berlin:
Einer ist plötzlich für Biographien.
Und aus einem Grunde, grad oder krumm,
gefällt diese Sache dem Publikum.
Das Publikum mag das Neue gern kaufen …
 
Nun kommen sie aber alle gelaufen!
 
Jetzt schießen, mit und ohne Komfort,
die Biographien aus dem Boden hervor:
 
Kaiser Gustav der Heizbare; Fürstenberg;
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der Herzbesitzer von Heidelberg;
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Frau Neppach, Einstein und Lindberghs Sohn
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und vom Landgericht III der Justizrat Cohn –
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sie alle bekommen ihre Biographie
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(mit Bild auf dem Umschlag) – jetzt oder nie!
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Heute so dick wie ein Lexikon,
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und morgen spricht kein Mensch mehr davon.
 
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Denn morgen ist da ein neues Glück:
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das englische Grusel- und Geisterstück.
 
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Da kommen aber in hellen Haufen
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die Theaterdirektoren gelaufen!
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„Die Gräfin auf der Kirchhofswand“,
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„Sherlock Piel zwischen Lipp und Kelchesrand“,
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„Das Bidet im Urwald“ – oder wie das so heißt,
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und plötzlich hat jedes Theater ’nen Geist.
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„Das kenn Se nich? Das haben Sie noch nicht gesehn –?
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Da müssen Sie unbedingt hingehn –!“
 
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Und aus einen, ders nicht gesehn hat, spucken …
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Morgen sind die Achseln ganz müde vom Zucken:
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„Wenn ich schon Geisterstücke seh –
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Passé!“
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Mal Punktroller und mal Negerplatten;
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mal Freud und mal Kreuzworträtsel-Debatten;
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mal Tiergeschichten und mal Autorennen;
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mal muß man den ganzen Brockhaus kennen –
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(„Frag mich was!“ – Sie mir auch.)
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Und so haben nun
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die Berliner immer was zu tun.
 
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Denn so ist das in diesem Falle:
 
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Was einer macht, das machen sie alle.
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Macht einer Film mit Neckarstrand,
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dann nehmen das tausend in die Hand.
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Schreibt einer ein Buch vom Dauerlauf,
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dann greifen das hundert Verleger auf.
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Sie begehren immer, die guten Knaben,
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des Nächsten Vieh –
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„Müssen wir auch mal haben!“
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Sie möchten niemals die eigenen Sachen.
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„Das? das müssen wir auch mal machen –!“
 
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Lasset uns dieserhalb nicht weinen.
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Wo nichts ist, da borg ich mir einen.
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Nur ist da eines – o völkische Schmach! –
52 
komisch:
53 
uns macht keiner nach.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.8 KB)

Details zum Gedicht „All people on board!“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
53
Anzahl Wörter
309
Entstehungsjahr
1929
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „All people on board!“ wurde von Kurt Tucholsky verfasst, einem deutschen Schriftsteller und Journalisten, der von 1890 bis 1935 lebte.

Beim ersten Lesen fällt auf, dass das Gedicht eine heitere und ironische Stimmung vermittelt. Die direkte Ansprache erhöht die Lebendigkeit und den satirischen Ton des Ganzen.

Das Gedicht handelt davon, wie Moden und Trends in der Gesellschaft und den Medien entstehen und häufig schnell wieder verschwinden. Tucholsky kommentiert darauf, wie in Berlin plötzlich jemand eine Vorliebe für Biographien entwickelt und diese dadurch zu einem weit verbreiteten Phänomen werden. Er nennt verschiedene Personen, die plötzlich alle Biographien haben, und zeigt auf, dass diese Trends ebenso schnell wieder verschwinden, wie sie entstanden sind. Dabei betont er den Hang zur Nachahmung und fehlenden Originalität unter den Menschen in Berlin (und darüber hinaus). Dasselbe passiert mit Theaterstücken über Geister, wobei wieder die Konsumlust und Nachahmung kritisiert wird.

Die Form des Gedichts ist sehr frei. Es gibt keine festen Reim- oder Verssysteme und die Länge der Strophen variiert stark. Tucholsky nutzt Umgangssprache und humorvolle Formulierungen, um eine ironische und gleichzeitig kritische Haltung zu transportieren. Er nutzt Wortspiele (z.B. „Kaiser Gustav der Heizbare“) und hintergründigen Humor, um seine satirischen Kommentare zu übermitteln.

In Bezug auf die Sprache fällt auf, dass Tucholsky eine alltägliche, umgangssprachliche Diktion verwendet. Dies verstärkt den Eindruck von Direktheit und Unmittelbarkeit. Die flapsige und ironische Wortwahl und die zahlreichen Beispiele tragen ebenfalls zu dem humorvollen, satirischen Ton des Gedichts bei. Obwohl der Ton des Gedichts heiter und humorvoll ist, verbirgt sich dahinter eine durchaus ernsthafte Kritik an der Leichtgläubigkeit und Modeanfälligkeit der Gesellschaft.

Zusammenfassend ist „All people on board!“ ein satirisches Gedicht, in dem Tucholsky auf humorvolle und ironische Weise die Moden und Trends in der Gesellschaft und den Medien thematisiert und kritisiert. Mit seinem lockeren Sprachstil und dem Gebrauch von Alltagssprache schafft er einen unmittelbaren und lebendigen Eindruck. Sein Text ist eine Aufforderung, kritischer mit Moden und Trends umzugehen und eigene, authentische Wege zu gehen.

Weitere Informationen

Kurt Tucholsky ist der Autor des Gedichtes „All people on board!“. Tucholsky wurde im Jahr 1890 in Berlin geboren. Im Jahr 1929 ist das Gedicht entstanden. Berlin ist der Erscheinungsort des Textes. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zugeordnet werden. Der Schriftsteller Tucholsky ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Inhaltlich wurden in der Literatur der Weimarer Republik häufig die Ereignisse des Ersten Weltkriegs verarbeitet. Die geschichtlichen Einflüsse des Ersten Weltkrieges und der späteren Weimarer Republik sind die prägenden Faktoren dieser Epoche. Das wohl bedeutendste Merkmal der Literatur in der Weimarer Republik ist die Neue Sachlichkeit, die so heißt, da sie schlicht, klar, sachlich und hoch politisch ist. Die Literatur dieser Zeit war nüchtern und realistisch. Ebenso stellt sie die moderne Gesellschaft kühl distanziert, beobachtend, dokumentarisch und exakt dar. Die Autoren der Literaturepoche wollten so viele Menschen wie möglich mit ihren Texten erreichen, deshalb wurde eine einfache und nüchterne Alltagssprache verwendet. Die Freiheit von Wort und Schrift war zwar verfassungsmäßig garantiert, doch bereits 1922 wurde nach der Ermordung eines Politikers das Republikschutzgesetz erlassen, das diese Freiheit wieder einschränkte. Viele Schriftsteller litten unter dieser Zensur. Dieses Gesetz wurde in der Praxis nur gegen linke Autoren angewandt, nicht aber gegen rechte, die teils in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Das 1926 erlassene Schund- und Schmutzgesetz verstärkte die Grenzen der Zensur nochmals. Später als die Pressenotverordnung im Jahr 1931 in Kraft trat, war sogar die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen über mehrere Monate möglich.

Im Laufe der Geschichte gab es immer wieder Schriftsteller, die ins Exil fliehen, also ihre Heimat verlassen mussten. Dies geschah insbesondere zu Zeiten des Nationalsozialismus. Die Exilliteratur geht aus diesem Umstand hervor. Der Ausgangspunkt der Exilbewegung Deutschlands war der Tag der Bücherverbrennung am 30. Mai 1933. Die deutsche Exilliteratur schließt an die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik an und bildet damit eine eigene Literaturepoche in der deutschen Literaturgeschichte. Die Exilliteratur lässt sich insbesondere an den thematischen Schwerpunkten wie Sehnsucht nach der Heimat, Widerstand gegen Nazi-Deutschland oder Aufklärung über den Nationalsozialismus erkennen. Bestimmte formale Merkmale lassen sich jedoch nicht finden. Allerdings gab es einige neue Gattungen, die in dieser Epoche geboren wurden. Das epische Theater von Brecht oder auch die historischen Romane waren neue literarische Textsorten. Aber auch Flugblätter und Radioreden der Widerstandsbewegung sind hierbei als neue Textsorten zu erwähnen. Oftmals wurden die Texte auch getarnt, so dass sie trotz Zensur nach Deutschland gebracht werden konnten. Dies waren dann die sogenannten Tarnschriften.

Das 309 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 53 Versen mit insgesamt 10 Strophen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Kurt Tucholsky sind „An das Publikum“, „An die Meinige“ und „An einen garnisondienstfähigen Dichter“. Zum Autor des Gedichtes „All people on board!“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 136 Gedichte vor.

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