Achtundvierzig von Kurt Tucholsky

Siebzig Jahre ist das nun her.
Siebzig Jahre wiegen so schwer.
Schwarz-rot-goldene Fahnen flatterten,
Vater Wrangels Musketen knatterten –
Wofür?
 
Wie glühten die Herzen! wie glühten die Köpfe!
Kampf! Kampf gegen die Bürgertröpfe,
gegen die nickenden Zipfelmützen –
Klatschen in trübe Fürstenpfützen –
10 
Und dann?
 
11 
Der große Sieg in den siebziger Jahren
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ist uns verdammt in die Krone gefahren.
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Die Krone gleißte. Die Bürger krochen.
14 
Die treusten deutschen Herzen pochen
15 
im Proletariat.
 
16 
Und dann? Die versprochenen herrlichen Zeiten!
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Und dann? Wir wollen gen Frankreich reiten!
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Und dann? Wir kämpfen gegen zwei Welten,
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Herz und Hirn haben den Deubel zu gelten –
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Jetzt sitzt er in Holland.
 
21 
Wofür, mein Gott, hat die Freiheit geblutet?
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Wofür wurden Mütter und Mädchen geknutet?
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Spartakus! Deutsche! So öffnet die Augen!
24 
Sie warten, euch Blut aus den Adern zu saugen –
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Der Feind steht rechts!
 
26 
Zerfleischt euch nicht das eigene Herz!
27 
Denkt an die Barrikaden im März –!
28 
Wir litten so viel.
29 
Wollen wir nicht endlich Weltbürger werden?
30 
Wir haben nur einen Feind auf Erden:
31 
den deutschen Schlemihl!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.2 KB)

Details zum Gedicht „Achtundvierzig“

Anzahl Strophen
6
Anzahl Verse
31
Anzahl Wörter
166
Entstehungsjahr
1919
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Achtundvierzig“ stammt von Kurt Tucholsky, einem bedeutsamen Vertreter der literarischen Moderne und kritischen intellektuellen Stimme im Deutschland der Weimarer Republik, der zwischen 1890 und 1935 gelebt hat. Es thematisiert die politischen Unruhen und Kämpfe der Jahre um 1848 in Deutschland.

Auf den ersten Blick fällt auf, dass das Gedicht in einem direkten, kompromisslosen Ton geschrieben ist. Es wirkt kämpferisch und provozierend.

Inhaltlich erörtert das lyrische Ich die politischen Konflikte und revolutionären Bewegungen der deutschen Geschichte. Dazu gehören der Aufstand von 1848 („Siebzig Jahre ist das nun her“), wofür die „Schwarz-rot-goldenen Fahnen“ ein historisches Symbol sind, und die Eindämmung der Revolution durch reaktionäre Kräfte (wie in „Vater Wrangels Musketen knatterten“). Es fragt wiederholt nach dem Sinn und den Ergebnissen dieser Auseinandersetzungen („Wofür?“, „Und dann?“).

Die Pointe des Gedichts liegt im Aufruf zur politischen Erneuerung und Selbstreflexion („Spartakus! Deutsche! So öffnet die Augen!“, „den deutschen Schlemihl“). Klischees wie der „deutsche Schlemihl“ werden instrumentalisiert, um eine distanzierte Haltung gegenüber dem „eigenem“ zu fördern und ein Bewusstsein für die Möglichkeit politischen Scheiterns zu schaffen.

Formal besteht das Gedicht aus sechs Strophen mit jeweils fünf (die letzte Strophe weicht ab und hat sechs) Versen, was eine deklamatorische Wirkung hat. In Bezug auf Sprache und Stil ist bemerkenswert, dass es eine klare, volkstümliche und emotional aufgeladene Sprache verwendet. Es bedient sich verschiedener rhetorischer Mittel wie rhetorischer Fragen, emotionaler Appelle und provokanter Bilder.

Insgesamt ist das Gedicht „Achtundvierzig“ ein kraftvolles und kritisches Pamphlet, das die politischen Kämpfe und Veränderungen seiner Zeit mit deutlichen Worten ins Licht rückt und seine Leser zur Reflexion und zum Handeln auffordert.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Achtundvierzig“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Kurt Tucholsky. 1890 wurde Tucholsky in Berlin geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1919. Charlottenburg ist der Erscheinungsort des Textes. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zu. Bei Tucholsky handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Die wichtigsten geschichtlichen Einflüsse auf die Literatur der Weimarer Republik waren der Erste Weltkrieg, der von 1914 bis 1918 andauerte, und die daraufhin folgende Entstehung und der Fall der Weimarer Republik. Neue Sachlichkeit ist eine Richtung der Literatur der Weimarer Republik. In den Werken dieser Zeit ist die zwischen den Weltkriegen hervortretende Tendenz zu illusionsloser und nüchterner Darstellung von Gesellschaft, Technik, Weltwirtschaftskrise aber auch Erotik deutlich erkennbar. Man kann dies auch als Reaktion auf den literarischen Expressionismus werten. Die Handlung wurde meist nur kühl und distanziert beobachtet. Die Dichter orientierten sich an der Realität. Mit einem Minimum an Sprache wollte man ein Maximum an Bedeutung erreichen. Mit den Texten sollten so viele Menschen wie möglich erreicht werden. Deshalb wurde darauf geachtet eine nüchterne sowie einfache Alltagssprache zu verwenden. Viele Schriftsteller litten unter der Zensur in der Weimarer Republik. Im Jahr 1922 wurde nach einem Attentat auf den Reichsaußenminister das Republikschutzgesetz erlassen, das die zunächst verfassungsmäßig garantierte Freiheit von Wort und Schrift in der Weimarer Republik deutlich einschränkte. Dieses Gesetz wurde in der Praxis nur gegen linke Autoren angewandt, nicht aber gegen rechte, die teils in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Das im Jahr 1926 erlassene Schund- und Schmutzgesetz verstärkte die Grenzen der Zensur nochmals. Später als die Pressenotverordnung im Jahr 1931 in Kraft trat, war sogar die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen über mehrere Monate möglich.

Als Exilliteratur wird die Literatur von Schriftstellern bezeichnet, die unfreiwillig Zuflucht im Ausland suchen müssen, weil ihre Person oder ihr Werk in ihrer Heimat bedroht sind. Für die Flucht ins Exil geben meist politische oder religiöse Gründe den Ausschlag. Die deutsche Exilliteratur entstand in den Jahren von 1933 bis 1945 als Literatur der Gegner des Nationalsozialismus. Dabei spielten insbesondere die Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933 und der deutsche Überfall auf die Nachbarstaaten 1938/39 eine ausschlaggebende Rolle. Die Exilliteratur der Literaturgeschichte Deutschlands bildet eine eigene Literaturepoche und folgt auf die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik. Themen wie Verlust der eigenen Kultur, existenzielle Probleme, Sehnsucht nach der Heimat oder Widerstand gegen das nationalsozialistische Deutschland sind typisch für diese Literaturepoche. Bestimmte formale Gestaltungsmittel wie zum Beispiel Metrum, Reimschema oder der Gebrauch bestimmter rhetorischer Mittel lassen sich in der Exilliteratur nicht finden. Allerdings gab es einige neue Gattungen, die in dieser Epoche geboren wurden. Das epische Theater von Brecht oder auch die historischen Romane waren neue literarische Textsorten. Aber auch Radioreden oder Flugblätter der Widerstandsbewegung sind hierbei als neue Textsorten erwähnenswert. Oftmals wurden die Texte auch getarnt, so dass sie trotz Zensur nach Deutschland gebracht werden konnten. Dies waren dann die sogenannten Tarnschriften.

Das 166 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 31 Versen mit insgesamt 6 Strophen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Kurt Tucholsky sind „An Peter Panter“, „An das Publikum“ und „An die Meinige“. Zum Autor des Gedichtes „Achtundvierzig“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 136 Gedichte vor.

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