Adler und Taube von Johann Wolfgang von Goethe
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Ein Adlerjüngling hob die Flügel |
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nach Raub aus; |
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ihn traf des Jägers Pfeil und schnitt |
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der rechten Schwinge Sehnkraft ab. |
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Er stürzt' hinab in einen Myrthenhain, |
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fraß seinen Schmerz drei Tage lang |
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und zuckt' an Qual |
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drei lange, lange Nächte lang. |
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Zuletzt heilt ihn |
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allgegenwärt'ger Balsam |
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allheilender Natur. |
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Er schleicht aus dem Gebüsch hervor |
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und reckt die Flügel, — ach! |
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die Schwingkraft weggeschnittn — |
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hebt sich mühsam kaum |
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am Boden weg |
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unwürd'gem Raubbedürfnis nach |
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und ruht tieftrauernd |
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auf dem niedern Fels am Bach; |
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er blickt zur Eich' hinauf, |
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hinauf zum Himmel, |
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und eine Träne füllt sein hohes Aug'. |
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Da kommt mutwillig durch die Myrtenäste |
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dahergerauscht ein Taubenpaar, |
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läßt sich herab und wandelt nickend |
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über goldnen Sand und Bach |
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und ruckt einander an; |
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ihr rötlich Auge buhlt umher, |
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erblickt den Innigtrauernden, |
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der Tauber schwingt neugiergesellig sich |
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zum nahen Busch und blickt |
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mit Selbstgefälligkeit ihn freundlich an. |
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„Du trauerst", liebelt er, |
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„sei guten Mutes, Freund! |
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Hast du zur ruhigen Glückseligkeit |
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nicht alles hier? |
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Kannst du dich nicht des goldenen Zweiges freun, |
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der vor des Tages Glut dich schützt? |
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Kannst du der Abendsonne Schein |
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auf weichem Moos am Bache nicht |
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die Brust entgegenheben? |
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Du wandelst durch der Blumen frischen Tau, |
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pflückst aus dem Überfluß |
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des Waldgebüsches dir |
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gelegne Speise, letzest |
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den leichten Durst am Silberquell. — |
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O Freund, das wahre Glück |
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ist die Genügsamkeit, |
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und die Genügsamkeit |
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hat überall genug." — |
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„O Weise!" sprach der Adler, und tiefernst |
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versinkt er tiefer in sich selbst: |
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„O Weisheit, du red'st wie eine Taube!" |
Details zum Gedicht „Adler und Taube“
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1749 - 1832
Sturm & Drang,
Klassik
Gedicht-Analyse
Johann Wolfgang von Goethe ist der Autor des Gedichtes „Adler und Taube“. 1749 wurde Goethe in Frankfurt am Main geboren. In der Zeit von 1765 bis 1832 ist das Gedicht entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zu. Der Schriftsteller Goethe ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.
Als Sturm und Drang (auch Genieperiode oder Geniezeit) bezeichnet man eine Epoche der Literatur, die auf die Jahre 1765 bis 1790 datiert werden kann. Sie knüpfte an die Empfindsamkeit an und ging später in die Klassik über. Der Epoche des Sturm und Drang geht die Epoche der Aufklärung voran. Die Ideale und Ziele der Aufklärung wurden verworfen und es begann ein Auflehnen gegen die Prinzipien der Aufklärung und das gesellschaftliche System. Bei den Vertretern der Epoche des Sturm und Drang handelte es sich vorwiegend um junge Autoren. Um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen, wurde im Besonderen darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden und in den Gedichten einzusetzen. Die Werke vorheriger Epochen wurden geschätzt und dienten als Inspiration. Aber dennoch wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Mit seinen beiden bedeutenden Vertretern Goethe und Schiller entwickelte sich der Sturm und Drang weiter und ging in die Weimarer Klassik über.
Die Literaturepoche der Klassik beginnt nach heutiger Auffassung mit der Italienreise Goethes, die er 1786 im Alter von 36 Jahren machte. Das Ende der Epoche wird auf 1832 datiert. In der Klassik wurde die Literatur durch Auswirkungen der Französischen Revolution, die ziemlich zu Beginn der Epoche stattfand, entscheidend geprägt. In der Französischen Revolution setzten sich die Menschen dafür ein, dass für alle die gleichen Rechte gelten sollten. Das Zentrum der Weimarer Klassik lag in Weimar. Oft wird die Epoche auch nur als Klassik bezeichnet. Die Klassik orientiert sich an traditionellen Vorbildern aus der Antike. Sie strebt nach Harmonie ganz im Gegensatz zur Epoche der Aufklärung und des Sturm und Drangs. In der Gestaltung wurde das Gültige, Gesetzmäßige, Wesentliche sowie die Harmonie und der Ausgleich gesucht. Im Gegensatz zum Sturm und Drang, wo die Sprache oft derb und roh ist, bleibt die Sprache in der Weimarer Klassik den sich selbst gesetzten Regeln treu. Die bedeutendsten Schriftsteller der Weimarer Klassik sind Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe. Weitere bekannte Schriftsteller der Weimarer Klassik sind Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried Herder. Die beiden zuletzt genannten arbeiteten aber jeweils für sich. Einen konstruktiven Austausch im Sinne eines gemeinsamen Arbeitsverhältnisses gab es nur zwischen Schiller und Goethe.
Das 252 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 53 Versen mit insgesamt 3 Strophen. Johann Wolfgang von Goethe ist auch der Autor für Gedichte wie „An die Entfernte“, „An die Günstigen“ und „An einen jungen Prahler“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Adler und Taube“ weitere 1617 Gedichte vor.
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