Ein Menschenherz von Robert Eduard Prutz

In ein verlas'nes Zimmer trat ich jüngst,
Das schon seit Jahren keines Menschen Fuß
Berührt, auch meiner nicht. Dumpf war die Luft
Wie Grabeshauch; durch blinde Scheiben fiel
Das Licht des Tages matt und bleich herein,
Mißfarb'ge Ringe malend an die Wand,
Dran der Tapete Zierrat längst erblaßt;
Und dichter Staub, der Moder alter Zeit,
Wie Asche lag auf Teppich, Stuhl und Tisch ...
 
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Unheimlich war es in dem öden Raume,
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Und dennoch traf es mich wie Frühlingshauch,
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Wie Duft im Mai, wenn junge Rosen blühn!
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Denn einst in dieses schweigsame Gemach
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Aus dem Gewühl des Lebens flüchtet' ich,
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Um hier im Arm der Liebe auszuruh'n.
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O, welche Küsse wurden hier getauscht,
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Welch süßes Flüstern klang durch diese Stille,
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Wie Lied der Nachtigallen, das leisatmend,
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Ins heil'ge Schweigen sich der Nacht verliert!
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Ja wohl, das sind dieselben Kissen noch,
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Auf denen einst die Liebste sich gewiegt,
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Wenn sie mit weichen Armen mich umschlang;
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Der Spiegel das verwittert und umflort,
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Der einst ihr Bildnis mir zurückgestrahlt
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In ihrer Lockenfülle goldner Pracht;
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Und hier, o Gott, hier ist ja noch die Uhr,
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Auf schwankem Bronzesockel aufgestellt,
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Die einst mir meines Glückes Stunde wies! ...
 
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Und wie ich jetzt der Uhr mich nähern will,
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Den rostzernagten Zeiger zu betrachten,
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Und wie mein Fuß mit ungewissem Schritt
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Den morschen Estrich rührt, daß Staub aufwirbelnd
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Zur Decke steigt ?
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Da plötzlich regt sich's in der toten Uhr,
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Der Pendel hebt in leisen Schwingungen,
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Ein ächzend dröhnen geht durch das Gehäus,
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Die Räder stöhnen, o so müd, so müd,
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Wie Todesseufzer einer kranken Brust,
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Und leise, leise tickt die Uhr, ein, zwei,
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Dreimal ? und wieder steht sie still ...
 
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Und ich gedachte an ein Menschenherz,
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Das, wenn der Lenz des Lebens abgeblüht,
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In dumpfer Stille jahrelang verharrt,
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Unhörbar, gleich der abgelaufnen Uhr;
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Doch naht Erinn'rung alter Zeiten sich
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Mit schwankem Fuß und deckt die Gräber auf
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Vergang'ner Wonnen, dann noch einmal pocht es
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In grimmgem Schmerz, ein, zwei, dreimal, und steht
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Dann still auf ewig ...
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.6 KB)

Details zum Gedicht „Ein Menschenherz“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
49
Anzahl Wörter
325
Entstehungsjahr
1816 - 1872
Epoche
Klassik,
Romantik,
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Ein Menschenherz“ wurde von Robert Eduard Prutz verfasst, der von 1816 bis 1872 lebte. Dies zu berücksichtigen, ist es wahrscheinlich während der deutschen Romantik oder im Realismus entstanden.

Der erste Eindruck des Gedichts offenbart eine Atmosphäre von Melancholie und Nostalgie. Es wirkt ruhig, nachdenklich, aber auch ein wenig düster.

Das lyrische Ich betritt in der ersten Strophe ein verlassenes Zimmer, welches seit Jahren nicht von Menschen betreten wurde. Der Raum ist von Staub und Spinnweben überzogen, ein Zeichen für den Verfall und die Vergangenheit. In der zweiten Strophe wird enthüllt, dass das lyrische Ich einst in diesem Raum Zuflucht vor dem Trubel der Welt gesucht und dort Liebe erlebt hat. Diese Erinnerungen sind scheinbar an verschiedene Gegenstände im Raum gebunden, wie Kissen, Spiegel und eine alte Uhr. Im dritten Teil des Gedichts verkündet das lyrische Ich, dass diese alte Uhr überraschenderweise ein paar Sekunden lang zu ticken beginnt, bevor sie wieder verstummt. In der letzten Strophe wird diese Uhr mit dem menschlichen Herzen verglichen, dessen Pulse scheinbar mit den Erinnerungen an die vergangene Liebe wiederbelebt werden, um dann trauerhaft endgültig zu verstummen.

Diese Metapher ist ein wesentliches Element des Gedichts. Die Uhr, die nach Jahren des Stillstands kurzzeitig zum Ticken beginnt, steht sinnbildlich für das Herz, das sich der Vergangenheit erinnert und kurzzeitig mit Leben erfüllt wird, bevor es endgültig verstummt. Es geht also um die Vergänglichkeit, die Macht der Erinnerungen und die Unausweichlichkeit des Todes.

Das Gedicht besteht aus vier Strophen unterschiedlicher Länge und folgt keinem festen Metrum oder Reimschema. Die Sprache ist bildreich und oft metaphorisch, was den melancholischen und nostalgischen Ton des Gedichts unterstreicht. Der Einsatz von Personifikation (die Uhr, die „ächt“ und „stöhnt“) trägt dazu bei, eine Atmosphäre der Melancholie und Einsamkeit zu erzeugen. Dies trägt zur Emotionalität des Gedichts bei und lässt den Leser die tiefen Empfindungen des lyrischen Ichs spüren.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Ein Menschenherz“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Robert Eduard Prutz. Der Autor Robert Eduard Prutz wurde 1816 in Stettin geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1832 bis 1872 entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Klassik, Romantik, Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz oder Realismus zuordnen. Prüfe bitte vor Verwendung die Angaben zur Epoche auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich Literaturepochen zeitlich überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung häufig mit Fehlern behaftet. Das 325 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 49 Versen mit insgesamt 4 Strophen. Die Gedichte „Das Mädchen spricht“ sind weitere Werke des Autors Robert Eduard Prutz. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Ein Menschenherz“ weitere 10 Gedichte vor.

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