Die sterbende Blume von Friedrich Rückert

Hoffe! du erlebst es noch,
Daß der Frühling wiederkehrt;
Hoffen alle Bäume doch,
Die des Herbstes Wind verheert,
Hoffen mit der stillen Kraft
Ihrer Knospen winterlang,
Bis sich wieder regt der Saft
Und ein neues Grün entsprang. –
 
?Ach, ich bin kein starker Baum,
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Der ein Sommertausend lebt,
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Nach verträumtem Wintertraum
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Neue Lenzgedichte webt.
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Acht, ich bin die Blume nur,
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Die des Maies Kuß geweckt,
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Und von der nicht bleibt die Spur,
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Wie das weiße Gras sie deckt." –
 
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Wenn du denn die Blume bist,
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O bescheidenes Gemüt,
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Tröste dich, beschieden ist
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Samen allem, was da blüht.
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Laß den Sturm des Todes doch
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Deinen Lebensstaub verstreun,
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Aus dem Staube wirst du noch
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Hundertmal dich selbst erneun. –
 
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?Ja, es werden nach mir blühn
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Andre, die mir ähnlich sind;
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Ewig ist das ganze Grün,
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Nur das Einzle welkt geschwind.
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Aber, sind sie, was ich war,
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Bin ich selber es nicht mehr:
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Jetzt nur bin ich ganz und gar,
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Nicht zuvor und nicht nachher.
 
33 
?Wenn einst sie der Sonne Blick
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Wärmt, der jetzt noch mich durchflammt,
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Lindert das nicht mein Geschick,
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Das mich nun zur Nacht verdammt.
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Sonne, ja du äugelst schon
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Ihnen in die Fernen zu;
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Warum noch mit frost'gem Hohn
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Mir aus Wolken lächelst du?
 
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?Weh' mir, daß ich dir vertraut,
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Als mich wach geküßt dein Strahl;
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Daß ins Aug' ich dir geschaut,
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Bis es mir das Leben stahl!
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Dieses Lebens armen Rest
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Deinem Mitleid zu entziehn,
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Schließen will ich krampfhaft fest
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Mich in mich und dir entfliehn.
 
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?Doch du schmelzest meines Grimms
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Starres Eis in Tränen auf;
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Nimm mein fliehend Leben, nimm's,
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Ewig, zu dir hinauf!
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Ja, du sonnest noch den Gram
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Aus der Seele mir zuletzt;
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Alles, was von dir mir kam,
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Sterbend dank ich dir es jetzt:
 
57 
?Aller Lüfte Morgenzug,
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Dem ich sommerlang gebebt;
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Aller Schmetterlinge Flug,
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Die um mich im Tanz geschwebt;
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Augen, die mein Glanz erfrischt,
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Herzen, die mein Duft erfreut, –
63 
Wie aus Duft und Glanz gemischt
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Du mich schuf'st, dir dank ich's heut.
 
65 
?Eine Zierde deiner Welt,
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Wenn auch eine kleine nur,
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Ließest du mich blühn im Feld
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Wie die Stern' auf höhrer Flur.
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Einen Odem hauch' ich noch,
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Und er soll kein Seufzer sein;
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Einen Blick zum Himmel hoch
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Und zur schönen Welt hinein.
 
73 
?Ew'ges Flammenherz der Welt,
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Laß verglimmen mich an dir!
75 
Himmel, spann' dein blaues Zelt,
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Mein vergrüntes sinket hier!
77 
Heil, o Frühling, deinem Schein!
78 
Morgenluft, Heil deinem Wehn!
79 
Ohne Kummer schlaf' ich ein,
80 
Ohne Hoffnung aufzustehn."
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30 KB)

Details zum Gedicht „Die sterbende Blume“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
80
Anzahl Wörter
407
Entstehungsjahr
1788 - 1866
Epoche
Klassik,
Romantik,
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die sterbende Blume“ stammt von dem deutschen Dichter Friedrich Rückert, der von 1788 bis 1866 lebte. Es kann somit in die Epoche der Romantik eingeordnet werden, die etwa von 1795 bis 1848 andauerte.

Beim ersten Lesen fällt auf, dass das Gedicht eine eher melancholische Stimmung ausstrahlt. Es handelt von einer Blume, die sich ihres baldigen Vergehens bewusst ist und diese Tatsache reflektiert. Rückert benutzt die Blume als Metapher, um über das Ende eines Lebens nachzudenken - und zwar nicht nur über sein eigenes, sondern auch über das aller Lebewesen.

Im ersten Teil spricht die Blume davon, dass sie sich nicht wie ein Baum im Winter regenerieren kann, sondern mit dem ersten Frost stirbt. Das lyrische Ich stellt sich als vergänglich dar und betrauert seine Sterblichkeit. Doch es gibt auch Hoffnung: Obwohl die Blume weiß, dass sie sterben wird, ist sie sich auch darüber im Klaren, dass neue Blumen nach ihr blühen werden. Die gesamte Natur ist im ständigen Wandel begriffen und obwohl jedes einzelne Lebewesen sterblich ist, ist das Leben als Ganzes ewiglich.

In Bezug auf die Form und die Sprache des Gedichts fällt auf, dass es in Reimversen geschrieben ist, was typisch für die Dichtung der Romantik ist. Die Strophen sind alle gleich aufgebaut und bestehen jeweils aus acht Versen. Rückerts Sprache ist blumig und voller Metaphern, was dem Inhalt des Gedichts sehr angemessen ist.

Insgesamt behandelt „Die sterbende Blume“ das Thema Vergänglichkeit auf eine nachdenkliche und anrührende Art und Weise. Es geht sowohl um den individuellen Tod als auch um den Kreislauf des Lebens und die ständige Erneuerung in der Natur. Obwohl das lyrische Ich das Unvermeidliche akzeptiert hat, gibt es auch Momente der Rebellion und des Schmerzes, was das Gedicht sehr menschlich und relatable macht.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Die sterbende Blume“ ist Friedrich Rückert. 1788 wurde Rückert in Schweinfurt geboren. In der Zeit von 1804 bis 1866 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Klassik, Romantik, Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz oder Realismus zuordnen. Prüfe bitte vor Verwendung die Angaben zur Epoche auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich Literaturepochen zeitlich überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung häufig mit Fehlern behaftet. Das Gedicht besteht aus 80 Versen mit insgesamt 10 Strophen und umfasst dabei 407 Worte. Die Gedichte „Des ganzen Menschen und des einzelnen Geschichte“, „Vermeiden sollen sich, die nicht zusammenpassen“ und „Schlaf ein, mein Herz“ sind weitere Werke des Autors Friedrich Rückert. Zum Autor des Gedichtes „Die sterbende Blume“ haben wir auf abi-pur.de weitere 102 Gedichte veröffentlicht.

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