Benn, Gottfried - Reisen (Gedichtinterpretation)

Schlagwörter:
Gottfried Benn, Analyse, Interpretation, Gedichtanalyse, Referat, Hausaufgabe, Benn, Gottfried - Reisen (Gedichtinterpretation)
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Referat

Gottfried Benn – „Reisen“ (Interpretation)

Reisen
von Gottfried Benn

Meinen Sie Zürich zum Beispiel
sei eine tiefere Stadt,
wo man Wunder und Weihen
immer als Inhalt hat?
 
Meinen Sie, aus Habana,
weiß und hibiskusrot,
bräche ein ewiges Manna
für Ihre Wüstennot?
 
Bahnhofstraßen und Rueen,
10 
Boulevards, Lidos, Laan –
11 
selbst auf den Fifth Avenueen
12 
fällt Sie die Leere an –
 
13 
ach, vergeblich das Fahren!
14 
Spät erst erfahren Sie sich:
15 
bleiben und stille bewahren
16 
das sich umgrenzende Ich.

(„Reisen“ von Gottfried Benn ist auch in unserer Gedichtedatenbank zu finden. Dort findest Du auch weitere Gedichte des Autoren.)

Das Gedicht „Reisen“, welches im Jahr 1950 von Gottfried Benn verfasst und veröffentlicht wurde, thematisiert das Herumreisen des lyrischen Ichs ohne sich einer Heimat anzunehmen und sich zugehörig zu fühlen. Das Gedicht lässt sich der Epoche der Nachkriegsliteratur und des Wiederaufbaus zuordnen, welche sich durch die Verwendung kurzer Sätze (vgl. V. 13) oder aufgrund des offenen Endes (vgl. V. 16) erkennen lässt. Auch die Auseinandersetzung mit der Schuldfrage und die Verdrängung des Erlebten wird durch die zu Beginn an das lyrische Du adressierte Frage, „Meinen Sie[…]?“ deutlich.

Das Gedicht teilt sich in insgesamt vier Strophen mit je vier Versen. Erkennen lässt sich ein Kreuzreim, ausgenommen des ersten und dritten Verses (vgl. V. 1 ff.), hier liegt kein Reimschema vor. Die Verwendung eines Kreuzreims verleiht dem Gedicht eine angenehme Rhythmik, welche jedoch durch das Nichtvorhandenseins eines Metrums unterbrochen wird. Allerdings finden sich teilweise daktylische Züge auf (vgl. V. 1 f.). Aufgrund der Nutzung vieler Enjambements (vgl. V. 3 f.) wird die gängige Struktur des Gedichts ebenfalls aufgebrochen, da die Zäsur des Vers-Endes bewusst überschritten wird. Durch die Verwendung des Kreuzreims wirkt das Gedicht daher flüssiger und gleitender.

In den ersten beiden Strophen wird der Leser direkt angesprochen und es wird indirekt bzw. rhetorisch nach seiner Meinung gefragt. Am Anfang ist die Stadt Zürich, die angesprochen wird und in der zweiten Strophe ist es Havanna. Die beiden Strophen sind parallelistisch zueinander aufgebaut und fangen mit der Anapher „Meinen Sie“ an.

In der ersten Strophe (vgl. V. 1 - 4) richtet das lyrische Ich eine konkrete Frage an das lyrische Du, in welcher es Zürich als mögliches Reiseziel aufwirft. Mittels der zu Beginn verwendeten Anapher „Meinen Sie[…]?“ (V. 1) adressiert das lyrische Ich seine Frage konkret an das lyrische Du. Zürich wird als eine „tiefere Stadt“ (V. 2) beschrieben, welches sich als Ironie feststellen lässt, da Zürich eine sehr hoch liegende Stadt ist. Es wird deutlich, dass das lyrische Ich die Schönheit der Stadt infrage stellt. Auch die Alliteration der Wörter „Wunder und Weihen“ (V. 3) im Zusammenhang der rhetorischen Frage (vgl. V. 4) lässt deutlich werden, dass das lyrische Ich das Glück, welches es in Zürich finden könnte, bezweifelt. Die erste Strophe beginnt mit Zürich, als Beispiel einer Großstadt mit viel Trubel. Allerdings sei diese Stadt keine „tiefe(re) Stadt“ (V. 2), was in diesem Zusammenhang als Gegenteil zu oberflächlich gesehen werden kann. Die ersten zwei Verse fangen mit einer direkten Ansprache an den Leser an; sie wirkt schon fast provokant und ironisch in diesem Fall. Auch der Konjunktiv „sei“ (V.2) bestätigt diese Annahme.

Somit wird schon in den ersten zwei Versen des Gedichts klar, was die Einstellung des lyrischen-Ichs ist, obwohl dieses Personalpronomen erst im letzten Vers einmal fällt, da die Person nicht so wichtig ist und sich nicht in den Vordergrund stellen will. Durch die Alliteration „Wunder und Weihen“ (V. 3) wird der ironische Unterton weiter verstärkt. Zudem wird dadurch angesprochen, dass viele die Stadt Zürich mit so etwas verbinden, obwohl man dies dort auch nicht immer (vgl. V. 4) hat, sondern es auch in jeder anderen Stadt finden würde. Somit wird die Einzigartigkeit dieser einen Stadt weggenommen, denn man kann sie mit jeder anderen Großstadt austauschen.

Die zweite Strophe (vgl. V. 5-8) beinhaltet eine erneute Frage an das lyrische Du, in welcher es nun die Stadt Havanna als Ziel seiner Reise ebenso hinterfragt. Dies wird ebenfalls durch die Anapher von „Meinen Sie[…]?“ (V. 5) deutlich. Die Häufigkeit der Fragen an das lyrische Du verdeutlichen, wie unzufrieden das lyrische Ich mit der Situation seiner Zugehörigkeit ist. Aus der Stadt „Havanna“ macht das lyrische Ich „Habana“ (V. 5). Hierdurch ergibt sich eine gewisse Assonanz (Gleichklang) mit dem Farbadjektiv „hibiskusrot“ (V. 6). Das lyrische Ich empfindet Havanna würde „ein ewiges Manna“ (V. 7) brechen, wodurch dieses ebenfalls nicht als Reiseziel infrage käme. Auch in dieser Strophe findet sich ein Konjunktiv in Vers 7: „bräche“, allerdings wird das Ganze noch einmal gesteigert, denn jetzt ist es der Konjunktiv 2. Dadurch wird die Ironie zum Sarkasmus und das lyrische Ich macht sich hier offensichtlich lustig über die Leute bzw. die Leser (mit der Ansprache „meinen Sie…“), die in einer weitentfernten Stadt ihr Glück finden wollen oder sich selbst finden wollen. Der Neologismus des Begriffs „Wüstennot“ (V. 8) verdeutlicht ebenfalls die negative Einstellung zu Havanna, indem dieses als hilfebedürftig dargestellt wird.

Die dritte Strophe fängt unerwartet anders an, als Strophe eins und zwei, und zwar mit einer Akkumulation von verschiedenen Worten für eine Art von Einkaufsstraße. Es geht um Einkaufsstraßen, die jedoch eine Leere ausstrahlen und diese den Leser anfällt. Das lyrische Ich berichtet über zahlreiche Orte, welche auf das lyrische Ich allesamt nicht als Reiseziel, demnach als Heimat vorstellbar wären. Die zu Beginn aufgeführte Akkumulation (vgl. V. 9 f.) stellt dabei klar, wie groß die Anzahl an Orten ist, welche vom lyrischen Ich bereist werden können. Die Alliteration von „Lidos, Laan“ (V. 10) lässt das Gedicht in diesem Fall flüssiger klingen. Das lyrische Ich beschreibt die „Fifth Avenuen“ (V. 11), wodurch deutlich wird, dass dieses auf New York anspielt. Aufgrund der Personifikation (vgl. V. 12), welche zur Aussage bringt, all diese Orte würden über eine „Leere“ (V. 12) verfügen, verdeutlicht das lyrische Ich gezielt, dass keiner dieser Orte für dieses als Reiseziel infrage käme. Diese zwei Dinge stehen im Gegensatz zu einander, denn sachlich gesehen sind die Boulevards oder Fifth Avenueen (vgl. V.10f.) eben nicht leer. Mit dieser Leere ist allerdings eine andere gemeint und zwar die Leere des Sinns, denn man kann auf diesen Straßen eben nichts für sich selbst mitnehmen oder finden. Man kann sich nicht selbst finden und somit bleibt das Alles für einen selbst gesehen leer oder ohne Sinn.

Die vierte und letzte Strophe (vgl. V. 13 - 16) stellt das Aufgeben der Suche nach der Heimat des lyrischen Ichs dar. Der Ausruf „Ach, Vergleich das Fahren!“ (V. 13) zeigt hier, dass das lyrische Ich die Reise als überflüssig betrachtet, da es glaubt, die richtige Heimat nicht finden zu können. Es folgt erneut eine Anrede an das lyrische Du (vgl. V. 14). Es wirkt, als wolle das lyrische Ich das lyrische Du von der Unsinnigkeit der Suche nach Heimat und Zugehörigkeit überzeugen. Das lyrische Ich rät, Ruhe zu bewahren (vgl. V. 15). Es glaubt, es selbst müsse sich mit dem Misserfolg abfinden, keine Heimat erlangen zu können (vgl. V. 15 f.). Dies geschieht mithilfe der Metapher des „sich umgrenzenden Ichs“ (V. 16), da diese beschreibt, dass das „Ich“ (V. 16) sich selbst von der Welt regelrecht „abgrenzt“ oder auch „abschottet“ und dieses daher keine Heimat finden kann. Den einzigen Nutzen im Fahren liegt darin, etwas zu erfahren (vgl. V.14 f.). Und zwar wird man erfahren, dass man die Lösung eben nicht auf der Reise suchen kann, sondern bei sich selbst suchen muss. Deshalb sollte man zuhause bleiben, Ruhe bewahren und bei sich selbst anfangen und sich vielleicht eine Zeit lang abgrenzen, um zu sich selbst zu finden.

In dem Gedicht von Gottfried Benn werden zunächst zwei Städte aufgezeigt, wobei hier schon die Einstellung des lyrischen Ichs zu diesen Reisen zur Selbstfindung herauskommt. Die dritte und vierte Strophe stehen dann ein wenig im Kontrast zu den ersten beiden. Die Intention des Autors liegt darin, Kritik an der Reise als Mittel zur Selbstfindung und Kritik an der Gesellschaft, die diese Reise als angemessen und sinnvoll ansieht, zu äußern. An den normalen Tourismus-Reisen, bei denen man eine Stadt besichtigt oder ans Meer fährt, sieht er hingegen nichts Verwerfliches. Die Lösung, die man sucht, ist nicht durch Orte begrenzt, sondern liegt in einem selbst. Zum Schluss zeigt das lyrische Ich noch den wirklichen Weg zur Selbstfindung auf, und zwar sei dies zu Hause zu bleiben, sich mit Stille zu umgeben und sich mit sich selbst zu befassen. Eine Reise, so das lyrische Ich, fördert nicht die Selbstfindung.

Abschließend kann man festhalten, dass sich das Gedicht aufgrund der vielfältigen Motive der Schuldfrage und des nicht vorhandenen Zugehörigkeitsgefühls, der Epoche der Nachkriegsliteratur und des Wiederaufbaus zuordnen lässt. Denn auch im Gedicht beschäftigt sich das lyrische Ich mit der Suche nach einer sicheren Heimat und adressiert dabei konkret das lyrische Du, indem es dieses rhetorisch um seine Meinung bittet. Letztendlich erkennt das lyrische Ich, dass es keine sichere Heimat zu finden scheint und die sogenannte „Reise“ als unnütz betrachtet werden kann. Das lyrische Ich betrachtet sich selbst als Problem dessen.

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