Das Volk der Denker von Erich Mühsam

Du armes Volk! Von aller Welt betrogen,
Besiegt im Kampf, im Sehnen selbst besiegt,
Sinnst du, das Hirn mit Wissen vollgesogen,
Der Frage nach, woran dein Unglück liegt.
Und schon gelingt dir trefflich zu erklären,
Warum bei so beschaffner Produktion
Des Einen Teil der Schweiß ist und die Schwären,
Des Andern Teil Theater, Sport und Spon.
Materialistisch weißt du zu begründen
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Der Wirtschaftsform Naturnotwendigkeit
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Und widerlegst den Wahn von Schuld und Sünden
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Als Narrenglauben der Vergangenheit.
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Wie scheint der Mahner dir naiv und komisch,
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Der an die Seele pocht: Wach auf! Hab Kraft!
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Du rechnest, wann historisch-ökonomisch
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Die Stunde reift auf Grund der Wissenschaft.
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Du lachst des Spruchs, Tat wachse nur aus Wollen,
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Der manchmal noch in wirren Köpfen spukt.
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Du siehst am Faden die Entwicklung rollen,
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Erkennst dich selbst als deiner Zeit Produkt.
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Du lerntest längst nach Phasen zu begreifen
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Den Aufstieg der Geschichte und Kultur
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Und lehnst es ab, in Träumerei zu schweifen:
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Kleinbürger-Utopien hemmen nur.
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Du kennst die Welt, durchdenkst sie dialektisch;
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Empirisch ist dein Tun, dein Sinn real!
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Sind deine Kinder skrofulös und hektisch –
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Du weißt Bescheid, so wirkt das Kapital.
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Und stehn sie hungrig vor des Reichen Türen,
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Der dich – Rebell! – vertrieb aus der Fabrik,
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Du senkst den Kopf in Bücher und Broschüren
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Zum Studium der sozialen Republik.
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Und liest: die Erde gäbe allen reichlich,
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Gehörte sie nur allen; – und du liest:
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Der schnöden Gegenwart folgt unausweichlich
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Die Zukunft, die ein freies Volk genießt.
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Die Zukunft kommt! Von selbst und ungerufen!
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In stolzem Trost schwelgt deine Phantasie.
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Nur eine Serie von Entwicklungsstufen
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Steht noch davor. – So lehrts die Theorie.
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Du liest und lernst, den Rücken krumm gebogen,
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Durchwühlst du Heft um Heft und Band um Band.
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O armes Volk! Von aller Welt betrogen,
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Betrügst du selbst dich um dein Sehnsuchtsland.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.3 KB)

Details zum Gedicht „Das Volk der Denker“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
44
Anzahl Wörter
295
Entstehungsjahr
1925
Epoche
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht trägt den Titel „Das Volk der Denker“ und wurde von Erich Mühsam verfasst, einem deutschen Schriftsteller und Anarchisten, der von 1878 bis 1934 lebte. Die massive Kritik an den sozialen Verhältnissen und das Augenmerk auf den Kampf der Arbeiterklasse lassen vermuten, dass das Gedicht in der Zeit der industriellen Revolution oder im frühen 20. Jahrhundert entstanden ist.

Der erste Eindruck des Gedichtes ist eher düster und trist. Es gibt eine klare Kritik an der Gesellschaft und den sozialen Ungleichheiten. Aber es gibt auch einen Hinweis auf die Macht des Denkens und der Bildung, sowohl positiv als auch negativ dargestellt.

Inhaltlich spricht das lyrische Ich das „arme Volk“ an, also vermutlich die Arbeiterklasse oder die Unterdrückten. Es wird beschrieben, wie diese Menschen von der Welt betrogen wurden und nun versuchen, zu verstehen, warum sie in ihrer misslichen Lage sind. Sie haben das Wissen und die Fähigkeit, die sozialen Ungleichheiten und Ausbeutung zu erkennen, aber sie scheinen es nur theoretisch zu analysieren, anstatt tatsächlich zu handeln. Das lyrische Ich ironisiert diese Position und kritisiert, dass das Volk sich nur auf Bücher und Theorien stützt, anstatt für eine soziale Veränderung zu kämpfen und ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Es endet mit dem Vorwurf, dass das Volk sich selbst um seine Sehnsüchte betrügt, indem es nicht handelt.

Das Gedicht ist in freien Versen verfasst und nutzt auffällige Reimstrukturen, was die Botschaft unterstreicht und den Rhythmus des Gedichts bestimmt. Die Sprache ist einfach und direkt, verwendet aber auch bildhafte Metaphern wie „du siehst am Faden die Entwicklung rollen“ oder „in stolzem Trost schwelgt deine Phantasie“, um das Thema zu verdeutlichen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dieses Gedicht eine deutliche sozialkritische Botschaft enthält und das lyrische Ich die Zuhörer oder Leser dazu ermutigen möchte, sich für Veränderung einzusetzen und nicht nur theoretisch über ihre Situation zu sinnieren. Es ist eine klare Anklage gegen Apathie und Resignation in der Arbeiterklasse und ein Aufruf zum aktiven Widerstand gegen Ungerechtigkeit und Ausbeutung.

Weitere Informationen

Erich Mühsam ist der Autor des Gedichtes „Das Volk der Denker“. Im Jahr 1878 wurde Mühsam in Berlin geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1925. Erschienen ist der Text in Berlin. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Expressionismus zuordnen. Bei dem Schriftsteller Mühsam handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 44 Versen mit nur einer Strophe und umfasst dabei 295 Worte. Erich Mühsam ist auch der Autor für Gedichte wie „1919“, „An die Dichter“ und „An die Soldaten“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Das Volk der Denker“ weitere 57 Gedichte vor.

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