Der Genius von Friedrich Schiller

»Glaub ich«, sprichst du, »dem Wort, das der
Weisheit Meister mich lehren,
Das der Lehrlinge Schar sicher und fertig
beschwört?
Kann die Wissenschaft nur zum wahren Frieden mich
führen,
Nur des Systemes Gebälk stützen das Glück und
das Recht?
Muß ich dem Trieb mißtraun, der leise mich warnt,
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dem Gesetze,
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Das du selber, Natur, mir in den Busen geprägt,
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Bis auf die ewige Schrift die Schul ihr Siegel
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gedrücket
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Und der Formel Gefäß bindet den flüchtigen Geist?
 
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Sage du mirs, du bist in diese Tiefen gestiegen,
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Aus dem modrigten Grab kamst du erhalten
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zurück,
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Dir ist bekannt, was die Gruft der dunklen Wörter
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bewahret,
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Ob der Lebenden Trost dort bei den Mumien
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wohnt.
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Muß ich ihn wandeln, den nächtlichen Weg? Mir
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graut, ich bekenn es!
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Wandeln will ich ihn doch, führt er zu Wahrheit
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und Recht.«
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Freund, du kennst doch die Goldene Zeit, es haben die
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Dichter
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Manche Sage von ihr rührend und kindlich erzählt,
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Jene Zeit, da das Heilige noch im Leben gewandelt,
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Da jungfräulich und keusch noch das Gefühl sich
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bewahrt,
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Da noch das große Gesetz, das oben im Sonnenlauf
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waltet
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Und verborgen im Ei reget den hüpfenden Punkt,
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Noch der Notwendigkeit stilles Gesetz, das stetige,
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gleiche,
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Auch der menschlichen Brust freiere Wellen
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bewegt,
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Da nicht irrend der Sinn und treu, wie der Zeiger am
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Uhrwerk,
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Auf das Wahrhaftige nur, nur auf das Ewige wies?
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Da war kein Profaner, kein Eingeweihter zu sehen,
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Was man lebendig empfand, ward nicht bei Toten
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gesucht,
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Gleich verständlich für jegliches Herz war die ewige
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Regel,
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Gleich verborgen der Quell, dem sie belebend
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entfloß.
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Aber die glückliche Zeit ist dahin! Vermessene
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Willkür
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Hat der getreuen Natur göttlichen Frieden gestört.
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Das entweihte Gefühl ist nicht mehr Stimme der
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Götter,
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Und das Orakel verstummt in der entadelten Brust.
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Nur in dem stilleren Selbst vernimmt es der
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horchende Geist noch,
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Und den heiligen Sinn hütet das mystische Wort.
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Hier beschwört es der Forscher, der reines Herzens
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hinabsteigt,
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Und die verlorne Natur gibt ihm die Weisheit
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zurück.
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Hast du, Glücklicher, nie den schützenden Engel
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verloren,
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Nie des frommen Instinkts liebende Warnung
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verwirkt,
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Malt in dem keuschen Auge noch treu und rein sich
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die Wahrheit,
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Tönt ihr Rufen dir noch hell in der kindlichen
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Brust,
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Schweigt noch in dem zufriednen Gemüt des Zweifels
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Empörung,
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Wird sie, weißt dus gewiß, schweigen auf ewig wie
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heut,
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Wird der Empfindungen Streit nie eines Richters
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bedürfen,
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Nie den hellen Verstand trüben das tückische Herz
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O dann gehe du hin in deiner köstlichen Unschuld,
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Dich kann die Wissenschaft nichts lehren. Sie lerne
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von dir!
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Jenes Gesetz, das mit ehrnem Stab den Sträubenden
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lenket,
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Dir nicht gilts. Was du tust, was dir gefällt, ist
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Gesetz,
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Und an alle Geschlechter ergeht ein göttliches
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Machtwort,
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Was du mit heiliger Hand bildest, mit heiligem
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Mund
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Redest, wird den erstaunten Sinn allmächtig bewegen,
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Du nur merkst nicht den Gott, der dir im Busen
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gebeut,
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Nicht des Siegels Gewalt, das alle Geister dir beuget,
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Einfach gehst du und still durch die eroberte Welt.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (31.9 KB)

Details zum Gedicht „Der Genius“

Anzahl Strophen
2
Anzahl Verse
92
Anzahl Wörter
494
Entstehungsjahr
1759 - 1805
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichts ist Friedrich Schiller, ein deutscher Dichter der Weimarer Klassik, der von 1759 bis 1805 lebte.

Auf den ersten Eindruck strahlt das Gedicht eine tiefe Reflexion und Auseinandersetzung mit der Rolle von Wissenschaft, Individualität und menschlicher Natur aus. Es stellt Fragen zu unserer Abhängigkeit von Autorität, der Bedeutung und Rolle von menschlicher Intuition und der Natur unserer eigenen Kreativität.

Das Gedicht beginnt mit der Frage, ob rein wissenschaftliches Wissen ausreicht, um Frieden, Glück und Gerechtigkeit zu gewährleisten. Das lyrische Ich hinterfragt die Rolle von Systemen und Wissenschaft und wendet sich dann Natur und Instinkt zu. Es scheint, als würde das lyrische Ich zwischen der abstrakten Welt der Wissenschaft und festen Gesetze und der inneren Welt der eigenen Intuition und Natur gespalten.

In der zweiten Strophe erinnert sich das lyrische Ich an eine 'goldene Zeit', in der Gefühle und Intuition geleitet haben, und beklagt das heutige Zeitalter, in dem Wissenschaft und formales Wissen dominieren. Es ruft dazu auf, das innere Wissen und 'die Stimme der Götter' in uns selbst zu finden.

Formal besteht das Gedicht aus zwei umfangreichen Strophen und zeichnet sich durch einen komplexen, aber rhythmischen Versbau aus. Die Sprache ist gehoben und symbolisch, mit starken Metaphern und bildhaften Ausdrücken.

Zusammengefasst scheint das Gedicht eine Kritik an der übermäßigen Abhängigkeit von Wissenschaft und formalisierten Systemen zu sein und fordert stattdessen ein Vertrauen in unsere eigene innere Weisheit und Intuition. Es feiert die Individualität, die Kreativität und die Kraft des natürlichen Instinkts. Es könnte interpretiert werden als ein Aufruf, sich der inneren Welt zu stellen und ihre Weisheit zu vertrauen. Es handelt davon, die eigenen inneren Gaben zu erkennen und zu nutzen, und stellt gleichzeitig die Frage, welche Wahrheiten in unseren Herzen oder im Herzen der Natur verborgen liegen.

Weitere Informationen

Friedrich Schiller ist der Autor des Gedichtes „Der Genius“. Geboren wurde Schiller im Jahr 1759 in Marbach am Neckar, Württemberg. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1775 und 1805. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Schiller handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Als Sturm und Drang (auch Genieperiode oder Geniezeit) bezeichnet man eine Literaturepoche, die auf die Jahre 1765 bis 1790 datiert werden kann. Sie knüpfte an die Empfindsamkeit an und ging später in die Klassik über. Die Epoche des Sturm und Drang war die Phase der Rebellion junger deutscher Autoren, die sich gegen die Prinzipien der Aufklärung und das gesellschaftliche System wendeten. Die Vertreter waren meistens junge Autoren, zumeist nicht älter als 30 Jahre. Um die subjektiven Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen, wurde im Besonderen darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden und in den Gedichten einzusetzen. Die Nachahmung und Idealisierung von Künstlern aus vergangenen Epochen wie dem Barock wurde abgelehnt. Die alten Werke wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Es wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Mit seinen beiden bedeutenden Vertretern Schiller und Goethe entwickelte sich der Sturm und Drang weiter und ging in die Weimarer Klassik über.

Die Literaturepoche der Weimarer Klassik dauerte von 1786 bis 1832 an. Zentrale Vertreter dieser Epoche waren Goethe und Schiller. Die zeitliche Abgrenzung orientiert sich dabei an dem Schaffen Goethes. So wird dessen erste Italienreise 1786 als Beginn der deutschen Klassik angesehen, die dann mit seinem Tod 1832 ihr Ende nahm. Sowohl die Bezeichnung Klassik als auch die Bezeichnung Weimarer Klassik sind gebräuchlich. Das literarische Zentrum dieser Epoche lag in Weimar. Humanität, Güte, Gerechtigkeit, Toleranz, Gewaltlosigkeit und Harmonie sind die essenziellen Themen. Die Klassik orientiert sich am antiken Kunstideal. In der Lyrik haben die Dichter auf Gestaltungs- und Stilmittel aus der Antike zurückgegriffen. Beispielsweise war so die streng an formale Kriterien gebundene Ode besonders beliebt. Darüber hinaus verwendeten die Autoren jener Zeit eine pathetische, gehobene Sprache. Die bedeutenden Schriftsteller der Weimarer Klassik sind Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe. Weitere Schriftsteller der Weimarer Klassik sind Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried Herder. Die beiden letztgenannten arbeiteten jeweils für sich. Einen produktiven Austausch im Sinne eines gemeinsamen Arbeitsverhältnisses gab es nur zwischen Schiller und Goethe.

Das Gedicht besteht aus 92 Versen mit insgesamt 2 Strophen und umfasst dabei 494 Worte. Weitere bekannte Gedichte des Autors Friedrich Schiller sind „An Minna“, „An den Frühling“ und „An die Gesetzgeber“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Der Genius“ weitere 220 Gedichte vor.

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