Die Morgue von Georg Heym
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Die Wärter schleichen auf den Sohlen leise, |
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Wo durch das Tuch es weiß von Schädeln blinkt. |
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Wir, Tote, sammeln uns zur letzten Reise |
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Durch Wüsten weit und Meer und Winterwind. |
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Wir thronen hoch auf kahlen Katafalken, |
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Mit schwarzen Lappen garstig überdeckt. |
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Der Mörtel fällt. Und aus der Decke Balken |
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Auf uns ein Christus große Hände streckt. |
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Vorbei ist unsre Zeit. Es ist vollbracht. |
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Wir sind herunter. Seht, wir sind nun tot. |
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In weißen Augen wohnt uns schon die Nacht, |
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Wir schauen nimmermehr ein Morgenrot. |
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Tretet zurück von unserer Majestät. |
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Befaßt uns nicht, die schon das Land erschaun |
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Im Winter weit, davor ein Schatten steht, |
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Des schwarze Schulter ragt im Abendgraun. |
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Ihr, die ihr eingeschrumpft wie Zwerge seid, |
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Ihr, die ihr runzelig liegt auf unserm Schoß, |
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Wir wuchsen über euch wie Berge weit |
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In ewige Todes-Nacht, wie Götter groß. |
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Mit Kerzen sind wir lächerlich umsteckt, |
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Wir, die man früh aus dumpfen Winkeln zog |
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Noch grunzend, unsre Brust schon blau gefleckt, |
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Die nachts der Totenvogel überflog. |
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Wir Könige, die man aus Bäumen schnitt, |
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Aus wirrer Luft im Vogel-Königreich, |
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Und mancher, der schon tief durch Röhricht glitt, |
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Ein weißes Tier, mit Augen rund und weich. |
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Vom Herbst verworfen. Faule Frucht der Jahre, |
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Zerronnen sommers in der Gossen Loch, |
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Wir, denen langsam auf dem kahlen Haare |
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Der Julihitze weiße Spinne kroch. |
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Wir, Namenlose, arme Unbekannte, |
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In leeren Kellern starben wir allein. |
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Was ruft ihr uns, da unser Licht verbrannte, |
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Was stört ihr unser frohes Stell-Dich-Ein? |
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Seht den dort, der ein graues Lachen stimmt |
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Auf dem zerfallnen Munde fröhlich an, |
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Der auf die Brust die lange Zunge krümmt, |
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Er lacht euch aus, der große Pelikan. |
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Er wird euch beißen. Viele Wochen war |
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Er Gast bei Fischen. Riecht doch wie er stinkt. |
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Seht, eine Schnecke wohnt ihm noch im Haar, |
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Die spöttisch euch mit kleinem Fühler winkt. |
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Ein kleines Glöckchen -. Und sie ziehen aus. |
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Das Dunkel kriecht herein auf schwarzer Hand. |
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Wir ruhen einsam nun im weiten Haus, |
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Unzählige Särge tief an hoher Wand. |
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Ewige Stille. Und des Lebens Rest |
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Zerwittert und zerfällt in schwarzer Luft. |
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Des Todes Wind, der unsre Tür verläßt, |
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Die dunkle Lunge voll vom Staub der Gruft, |
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Er atmet schwer hinaus, wo Regen rauscht, |
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Eintönig, fern, Musik in unserm Ohr, |
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Das dunkel in die Nacht dem Sturme lauscht:, |
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Der ruft im Hause traurig und sonor. |
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Und der Verwesung blauer Glorienschein |
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Entzündet sich auf unserm Angesicht. |
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Ein Ratte hopst auf nacktem Zehenbein, |
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Komm nur, wir stören deinen Hunger nicht. |
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Wir zogen aus, gegürtet wie Giganten, |
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Ein jeder klirrte wie ein Goliath. |
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Nun haben wir die Mäuse zu Trabanten, |
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Und unser Fleisch ward dürrer Maden Pfad. |
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Wir, Ikariden, die mit weißer Schwinge |
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Im blauen Sturm des Lichtes einst gebraust, |
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Wir hörten noch der großen Türme Singen, |
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Da rücklings wir in schwarzen Tod gesaust. |
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Im fernen Plan verlorner Himmelslande, |
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Im Meere weit, wo fern die Woge flog, |
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Wir flogen stolz in Abendrotes Brande |
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Mit Segeln groß, die Sturm und Wetter bog. |
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Was fanden wir im Glanz der Himmelsenden? |
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Ein leeres Nichts. Nun schlappt uns das Gebein, |
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Wie einen Pfennig in den leeren Händen |
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Ein Bettler klappern läßt am Straßenrain. |
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Was wartet noch der Herr? Das Haus ist voll, |
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Die Kammern rings der Karawanserei, |
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Der Markt der Toten, der von Knochen scholl, |
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Wie Zinken laut hinaus zur Wüstenei. |
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Was kommt er nicht? Wir haben Tücher an |
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Und Totenschuhe. Und wir sind gespeist. |
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Wo ist der Fürst, der wandert uns voran, |
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Des große Fahne vor dem Zuge reist? |
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Wo wird uns seine laute Stimme wehen? |
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In welche Dämmerung geht unser Flug? |
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Verlassen in der Einsamkeit zu stehen |
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Vor welcher leeren Himmel Hohn und Trug? |
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Ruhen wir uns aus im stummen Turm, vergessen? |
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Werden wir Welle einer Lethe sein? |
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Oder, daß Sturm uns treibt um Winteressen, |
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Wie Dohlen reitend auf dem Feuerschein? |
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Werden wir Blumen sein? Werden wir Vögel werden, |
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Im Stolze des Blauen, im Zorne der Meere weit? |
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Werden wir wandern in den tiefen Erden, |
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Maulwürfe stumm in toter Einsamkeit? |
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Werden wir in den Locken der Frühe wohnen, |
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Werden wir blühen im Baum, und schlummern in |
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Frucht, |
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Oder Libellen blau auf den See-Anemonen |
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Zittern am Mittag in schweigender Wasser Bucht; |
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Werden wir sein, wie ein Wort von niemand gehöret? |
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Oder ein Rauch, der flattert im Abendraum? |
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Oder ein Weinen, das plötzlich Freudige störet? |
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Oder ein Leuchter zur Nacht? Oder ein Traum? |
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Oder - wird niemand kommen? |
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Und werden wir langsam zerfallen, |
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In dem Gelächter des Monds, |
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Der hoch über Wolken saust, |
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Zerbröckeln in Nichts, |
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Daß ein Kind kann zerballen |
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Unsere Größe dereinst |
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In der dürftigen Faust. |
Details zum Gedicht „Die Morgue“
Georg Heym
25
113
750
1887 - 1912
Expressionismus
Gedicht-Analyse
Georg Heym ist der Autor des Gedichts „Die Morgue“. Er gehört zur Epoche des Expressionismus, welcher in der Zeit von 1890 bis 1925 in Deutschland vorherrschend war. Dieses lange Gedicht ist ein herausragendes Beispiel für seine symbolträchtige und bildreiche Sprache.
Inhalt des Gedichts ist der Tod und die nicht beantworteten Fragen danach, was der Tod bedeutet und was eventuell danach kommt. Das lyrische Ich in dem Gedicht ist ein Teil der Toten, die in einer Leichenhalle, einem sogenannten „Morgue“, aufbewahrt werden. Sie scheinen auf eine letzte Reise zu warten und sind sich bewusst, dass sie tot sind („Vorbei ist unsre Zeit. Es ist vollbracht. Wir sind herunter. Seht, wir sind nun tot“). Zugleich reflektiert das lyrische Ich seine eigene Lage und stellt Fragen zur Zukunft, was nach dem Tod passiert („Werden wir Blumen sein? Werden wir Vögel werden“), lässt diese Fragen jedoch unbeantwortet.
In Bezug auf die Form und Sprache des Gedichts ist die Einteilung der Strophen und Verse auffällig: Die Länge der Strophen variiert zwischen vier und neun Versen, die Verse selbst sind meist in vierhebigen Jamben verfasst. Das Gedicht weist keine durchgängige Reimstruktur auf, setzt aber Binnenreime und Assonanzen ein. Sprachlich zeichnet sich das Gedicht durch seine reiche Symbolik und sinnliche Bildlichkeit aus. So werden die Toten als Könige und Ikariden bezeichnet und mit dem Pelikan verglichen, ein traditionelles Symbol des Opfers und der Auferstehung. Das lyrische Ich stellt sich in der Tradition von antiken Helden und mythischen Figuren dar, um die eigene Größe zu betonen und einen Kontrast zur jetzigen Situation der Toten zu zeichnen.
Insgesamt ist das Gedicht ein intensives, existentiell in die Tiefe gehendes Stück, in dem sich Heym mit den grundlegenden Fragen des Lebens und Todes auseinandersetzt. Durch den Expressionismus sind die Bilder stark und lebendig, um das innere Erleben, die Emotionen und den existenziellen Konflikt des lyrischen Ichs hervorzuheben. Die kraftvolle Sprache und die nicht gefundene Antwort auf die gestellten Fragen machen das Gedicht zu einem starken Denkanstoß und stellen den Menschen vor die Unbegreiflichkeit des Todes und der Ewigkeit.
Weitere Informationen
Der Autor des Gedichtes „Die Morgue“ ist Georg Heym. Heym wurde im Jahr 1887 in Hirschberg geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1903 und 1912. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Expressionismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Der Schriftsteller Heym ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 113 Versen mit insgesamt 25 Strophen und umfasst dabei 750 Worte. Weitere Werke des Dichters Georg Heym sind „Der Abend“, „Der Baum“ und „Der Blinde“. Zum Autor des Gedichtes „Die Morgue“ haben wir auf abi-pur.de weitere 79 Gedichte veröffentlicht.
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