Am Turme von Annette von Droste-Hülshoff

Ich steh auf hohem Balkone am Turm,
Umstrichen vom schreienden Stare,
Und laß gleich einer Mänade den Sturm
Mir wühlen im flatternden Haare;
O wilder Geselle, o toller Fant,
Ich möchte dich kräftig umschlingen,
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand
Auf Tod und Leben dann ringen!
 
Und drunten seh ich am Strand, so frisch
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Wie spielende Doggen, die Wellen
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Sich tummeln rings mit Geklaff und Gezisch,
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Und glänzende Flocken schnellen.
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O, springen möcht' ich hinein alsbald,
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Recht in die tobende Meute,
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Und jagen durch den korallenen Wald
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Das Walroß, die lustige Beute!
 
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Und drüben seh ich ein Wimpel wehn
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So keck wie eine Standarte,
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Seh auf und nieder den Kiel sich drehn
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Von meiner luftigen Warte;
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O, sitzen macht' ich im kämpfenden Schiff,
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Das Steuerruder ergreifen,
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Und zischend über das brandende Riff
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Wie eine Seemöwe streifen.
 
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Wär' ich ein Jäger auf freier Flur,
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Ein Stück nur von einem Soldaten,
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Wär' ich ein Mann doch mindestens nur,
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So würde der Himmel mir raten;
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Nun muß ich sitzen so fein und klar,
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Gleich einem artigen Kinde,
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Und darf nur heimlich lösen mein Haar,
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Und lassen es flattern im Winde!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.1 KB)

Details zum Gedicht „Am Turme“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
32
Anzahl Wörter
189
Entstehungsjahr
1797 - 1848
Epoche
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Am Turme“ wurde von Annette von Droste-Hülshoff verfasst, einer renommierten deutschen Dichterin. Sie lebte von 1797 bis 1848, daher stammt dieses Werk aus dem 19. Jahrhundert, genauer gesagt der Epoche der Romantik.

Auf den ersten Blick wird ein lyrisches Ich präsentiert, das in der Natur, speziell auf einem Turm, steht und seine Umgebung beobachtet. Dem Leser wird eine dynamische und lebendige Atmosphäre vermittelt durch die Beschreibung des Windes, der Wellen und des Schiffs. Dabei werden starke Emotionen, Wünsche und Sehnsüchte des lyrischen Ichs in Bezug auf Freiheit, Abenteuer und Unabhängigkeit spürbar.

Das lyrische Ich beobachtet die landschaftliche Umgebung und projiziert seine inneren konfliktreichen Gefühle auf die belebten Naturereignisse. Es bekennt, auch wilde, freie und abenteuerliche Erfahrungen machen zu wollen und nicht nur die passive Rolle einnehmen zu dürfen. Hierbei wird insbesondere der Wunsch nach Geschlechterrollen-Überschreitung deutlich. Denn in der damaligen Gesellschaft, in der Droste-Hülshoff lebte, waren Frauen zu passiver Existenz in einer stark durch Männer dominierten Welt verurteilt. Das lyrische Ich ist unzufrieden mit dieser Rolle und möchte aktiv am Leben teilnehmen.

Form und Sprache des Gedichts sind durch zahlreiche Vergleiche und Bilder geprägt, die eine hohe Emotionalität und Vitalität widerspiegeln. Es besteht aus vier Strophen mit jeweils acht Versen, was eine gewisse Regelmäßigkeit vermittelt. Die Sprache ist bildhaft und expressiv, sie folgt keiner strikten Rhetorik, sondern fließt in freien Rhythmen und ist geprägt von Naturmetaphern und kräftigen Ausdrücken wie „sturm“, „ringen“, „walross“, „brandende Riff“ - eine theatralische und eindrucksvolle Terminologie, welche die inneren Konflikte und das Verlangen nach Freiheit des lyrischen Ichs hervorragend darstellt. Auch die Wiederholung des Wunsches „wär' ich“ in der letzten Strophe betont die Intensität des sehnenden Wunsches.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass dieses Gedicht eine tiefe Analyse und Reflexion auf die Rolle der Frau in einer männlich dominierten Gesellschaft ist und zeigt, wie stark die Sehnsucht nach Freiheit, Abenteuer und gleichberechtigter Teilhabe am Leben sein kann. Es stellt eine mutige Herausforderung der traditionellen Geschlechterrollen dar und ist daher auch als feministisches Gedicht zu sehen.

Weitere Informationen

Die Autorin des Gedichtes „Am Turme“ ist Annette von Droste-Hülshoff. Im Jahr 1797 wurde Droste-Hülshoff geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1813 und 1848. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten der Autorin lassen eine Zuordnung zur Epoche Biedermeier zu. Die Schriftstellerin Droste-Hülshoff ist eine typische Vertreterin der genannten Epoche. Das 189 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 32 Versen mit insgesamt 4 Strophen. Annette von Droste-Hülshoff ist auch die Autorin für das Gedicht „An meine Mutter“, „Am Letzten Tag des Jahres - Silvester“ und „Am Fronleichnamstage“. Zur Autorin des Gedichtes „Am Turme“ haben wir auf abi-pur.de weitere 123 Gedichte veröffentlicht.

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