Am Bodensee von Annette von Droste-Hülshoff

Über Gelände, matt gedehnt,
Hat Nebelhauch sich wimmelnd gelegt,
Müde, müde die Luft am Strande stöhnt,
Wie ein Roß, das den schlafenden Reiter trägt;
Im Fischerhause kein Lämpchen brennt,
Im öden Turme kein Heimchen schrillt,
Nur langsam rollend der Pulsschlag schwillt
In dem zitternden Element.
 
Ich hör' es wühlen am feuchten Strand,
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Mir unterm Fuße es wühlen fort,
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Die Kiesel knistern, es rauscht der Sand,
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Und Stein an Stein entbröckelt dem Bord.
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An meiner Sohle zerfährt der Schaum,
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Eine Stimme klaget im hohlen Grund,
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Gedämpft, mit halbgeschlossenem Mund,
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Wie des grollenden Wetters Traum.
 
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Ich beuge lauschend am Turme her,
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Sprühregenflitter fahrt in die Höh',
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Ha, meine Locke ist feucht und schwer!
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Was treibst du denn, unruhiger See?
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Kann dir der heilige Schlaf nicht nahn?
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Doch nein, du schläfst, ich seh es genau,
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Dein Auge decket die Wimper grau,
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Am Ufer schlummert der Kahn.
 
25 
Hast du so vieles, so vieles erlebt,
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Daß dir im Traume es kehren muß,
27 
Daß deine gleißende Nerv' erbebt,
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Naht ihr am Strand eines Menschen Fuß?
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Dahin, dahin! die einst so gesund,
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So reich und mächtig, so arm und klein,
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Und nur ihr flüchtiger Spiegelschein
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Liegt zerflossen auf deinem Grund.
 
33 
Der Ritter, so aus der Burg hervor
34 
Vom Hange trabte in aller Früh;
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Jetzt nickt die Esche vom grauen Tor,
36 
Am Zwinger zeichnet die Mylady.
37 
Das arme Mütterlein, das gebleicht
38 
Sein Leichenhemde den Strand entlang,
39 
Der Kranke, der seinen letzten Gang
40 
An deinem Borde gekeucht;
 
41 
Das spielende Kind, das neckend hier
42 
Sein Schneckenhäuschen geschleudert hat,
43 
Die glühende Braut, die lächelnd dir
44 
Von der Ringelblume gab Blatt um Blatt;
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Der Sänger, der mit trunkenem Aug'
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Das Metrum geplätschert in deiner Flut,
47 
Der Pilger, so am Gesteine geruht,
48 
Sie alle dahin wie Rauch!
 
49 
Bist du so fromm, alte Wasserfei,
50 
Hältst nur umschlungen, läßt nimmer los?
51 
Hat sich aus dem Gebirge die Treu'
52 
Geflüchtet in deinen heiligen Schoß?
53 
O, schau mich an! ich zergeh wie Schaum,
54 
Wenn aus dem Grabe die Distel quillt,
55 
Darm zuckt mein längst zerfallenes Bild
56 
Wohl einmal durch deinen Traum!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.9 KB)

Details zum Gedicht „Am Bodensee“

Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
56
Anzahl Wörter
334
Entstehungsjahr
1797 - 1848
Epoche
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Am Bodensee“ wurde von Annette von Droste-Hülshoff verfasst, einer deutschen Dichterin und Schriftstellerin, die von 1797 bis 1848 lebte. Sie gehört zur literarischen Epoche der Romantik.

Das Gedicht verleiht auf den ersten Blick ein Gefühl der Melancholie und Ruhe. Die Beschreibungen und Metaphern der Landschaft und der Natur lassen die Szene lebendig werden und vermitteln zugleich einen Eindruck von Stille und Einsamkeit.

Inhaltlich setzt sich das lyrische Ich mit der Vergänglichkeit des Lebens auseinander. Es betrachtet den See und reflektiert dabei über die Vergangenheit und die Menschen, die einst dort lebten und deren Spuren nun im Sand versunken sind. Der See als ewig fließendes und zugleich beständiges Element wird dabei als Gegenstück zur flüchtigen menschlichen Existenz gestellt.

Formal gesehen besteht das Gedicht aus sieben achtzeiligen Strophen, die jeweils im umarmenden Reim (abba) geschrieben sind. Dies strukturierter Rhythmus unterstützt die melancholische und nachdenkliche Atmosphäre des Gedichts.

Die Sprache von Droste-Hülshoff ist gekennzeichnet durch eine ausgeprägte Bildlichkeit und Metaphorik - ein Merkmal der Romantik. Die Natur wird als Spiegel der Seele und der Emotionen des lyrischen Ichs dargestellt. Es wird personifiziert und in Interaktion mit dem lyrischen Ich gebracht. Dies erzeugt einerseits eine intensive emotionale Nähe, andererseits verdeutlicht es das tiefgreifende Erschauern des lyrischen Ichs vor der Endlichkeit und Vergänglichkeit des menschlichen Seins.

Abschließend deutet „Am Bodensee“ auf die melancholischen Reflexionen über die Vergänglichkeit des Lebens und die sich ständig verändernde Natur. In diesem Gedicht stehen das unveränderliche Wasser und das flüchtige menschliche Leben in scharfem Kontrast zueinander, was zur hohen Emotionalität und melancholischen Atmosphäre des Werks beiträgt.

Weitere Informationen

Annette von Droste-Hülshoff ist die Autorin des Gedichtes „Am Bodensee“. 1797 wurde Droste-Hülshoff geboren. Zwischen den Jahren 1813 und 1848 ist das Gedicht entstanden. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten der Autorin her kann der Text der Epoche Biedermeier zugeordnet werden. Bei Droste-Hülshoff handelt es sich um eine typische Vertreterin der genannten Epoche. Das 334 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 56 Versen mit insgesamt 7 Strophen. Annette von Droste-Hülshoff ist auch die Autorin für das Gedicht „Im Grase“, „An meine Mutter“ und „Am Letzten Tag des Jahres - Silvester“. Auf abi-pur.de liegen zur Autorin des Gedichtes „Am Bodensee“ weitere 123 Gedichte vor.

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