Der Brief aus der Heimat von Annette von Droste-Hülshoff

Sie saß am Fensterrand im Morgenlicht,
Und starrte in das aufgeschlagne Buch,
Die Zeilen zählte sie und wußt' es nicht,
Ach weithin, weithin der Gedanken Flug!
Was sind so ängstlich ihre nächt'gen Träume?
Was scheint die Sonne durch so öde Räume?
Auch heute kam kein Brief, auch heute nicht.
 
Seit Wochen weckte sie der Lampe Schein,
Hat bebend an der Stiege sie gelauscht;
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Wenn plötzlich am Gemäuer knackt der Schrein,
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Ein Fensterladen auf im Winde rauscht,
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Es kömmt, es naht, die Sorgen sind geendet:
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Sie hat gefragt, sie hat sich abgewendet,
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Und schloß sich dann in ihre Kammer ein.
 
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Kein Lebenszeichen von der liebsten Hand,
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Von jener, die sie sorglich hat gelenkt,
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Als sie zum ersten Mal zu festem Stand
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Die zarten Kinderfüßchen hat gesenkt;
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Versprengter Tropfen von der Quelle Rande,
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Harrt sie vergebens in dem fremden Lande;
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Die Tage schleichen hin, die Woche schwand.
 
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Was ihre rege Phantasie geweckt?
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Ach, eine Leiche sah die Heimat schon,
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Seit sie den unbedachten Fuß gestreckt
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Auf fremden Grund und hörte fremden Ton;
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Sie küßte scheidend jung und frische Wangen,
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Die jetzt von tiefer Grabesnacht umfangen;
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Ist's Wunder, daß sie tödlich aufgeschreckt?
 
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In Träumen steigt das Krankenbett empor,
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Und Züge dämmern, wie in halber Nacht;
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Wer ist's? - sie weiß es nicht und spannt das Ohr,
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Sie horcht mit ihrer ganzen Seele Macht;
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Dann fährt sie plötzlich auf beim Windesrauschen,
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Und glaubt dem matten Stöhnen noch zu lauschen,
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Und kann erst spät begreifen daß sie wacht.
 
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Doch sieh, dort fliegt sie übern glatten Flur,
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Ihr aufgelöstes Haar umfließt sie rund,
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Und zitternd ruft sie, mit des Weinens Spur:
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»Ein Brief, ein Brief, die Mutter ist gesund!«
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Und ihre Tränen stürzen wie zwei Quellen,
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Die übervoll aus ihren Ufern schwellen;
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Ach, eine Mutter hat man einmal nur!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.3 KB)

Details zum Gedicht „Der Brief aus der Heimat“

Anzahl Strophen
6
Anzahl Verse
42
Anzahl Wörter
293
Entstehungsjahr
1797 - 1848
Epoche
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Dieses Gedicht heißt „Der Brief aus der Heimat“ und wurde von Annette von Droste-Hülshoff verfasst, einer bedeutenden deutschen Dichterin der Biedermeierzeit, die von 1797 bis 1848 lebte.

Beim ersten Eindruck fällt die melancholische und ängstliche Stimmung, die das Gedicht trägt, ins Auge. Es handelt von der Sehnsucht und Sorge eines lyrischen Ichs, das in der Ferne auf Nachrichten aus der Heimat wartet.

Der Inhalt dreht sich um eine Person, das lyrische Ich, welche anscheinend weit entfernt von ihrer Heimat lebt und sehnlichst auf einen Brief, wahrscheinlich von ihrer Mutter, wartet. Sie fühlt sich einsam und ängstlich, gerade weil sie keine Nachricht von zu Hause erhält. Sie ist besorgt um die Gesundheit ihrer Mutter und lebt in ständiger Erwartung und Hoffnung, dass der ersehnte Brief endlich ankommt. Als sie dann schließlich den Brief erhält, ist sie überwältigt von Erleichterung und Freude.

Formal gesehen besteht das Gedicht aus sechs Strophen, jede davon mit sieben Versen. Man kann sagen, dass es eine sehr traditionelle und formale Struktur aufweist. Sprachlich ist das Gedicht sehr bildhaft und nutzt viele Metaphern, um die Gefühle und Gedanken des lyrischen Ichs zu vermitteln.

Die Sprache ist geprägt von der melancholischen und ängstlichen Stimmung des lyrischen Ichs. Sie reflektiert die ängstliche Wartezeit und die aufkommenden Sorgen sehr eindrücklich. Verschiedene Bilder wie die von der „Lampe Schein“, dem „Gemäuer knackt“ oder dem „Matten Stöhnen“ erzeugen eine intensive Atmosphäre von Einsamkeit, Trübsal und der quälenden Ungewissheit.

Zusammengefasst erzählt „Der Brief aus der Heimat“ die Geschichte einer Sehnsucht nach Nähe und den Schmerz des Wartens, getragen von Sorge und Furcht. Es ist ein eindrückliches Beispiel der Dichtkunst von Annette von Droste-Hülshoff, das tiefgreifende Gefühle anspricht und den Leser in die Welt des lyrischen Ichs hineinzieht.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Der Brief aus der Heimat“ stammt aus der Feder der Autorin bzw. Lyrikerin Annette von Droste-Hülshoff. Im Jahr 1797 wurde Droste-Hülshoff geboren. In der Zeit von 1813 bis 1848 ist das Gedicht entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Biedermeier kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten der Autorin vorgenommen werden. Droste-Hülshoff ist eine typische Vertreterin der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 293 Wörter. Es baut sich aus 6 Strophen auf und besteht aus 42 Versen. Die Gedichte „An einen Freund“, „Letzte Worte“ und „Im Grase“ sind weitere Werke der Autorin Annette von Droste-Hülshoff. Zur Autorin des Gedichtes „Der Brief aus der Heimat“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 123 Gedichte vor.

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