Das Spiegelbild von Annette von Droste-Hülshoff

Schaust du mich an aus dem Kristall,
Mit deiner Augen Nebelball,
Kometen gleich die im Verbleichen;
Mit Zügen, worin wunderlich
Zwei Seelen wie Spione sich
Umschleichen, ja, dann flüstre ich:
Phantom, du bist nicht meinesgleichen!
 
Bist nur entschlüpft der Träume Hut,
Zu eisen mir das warme Blut,
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Die dunkle Locke mir zu blassen;
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Und dennoch, dämmerndes Gesicht,
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Drin seltsam spielt ein Doppellicht,
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Trätest du vor, ich weiß es nicht,
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Würd' ich dich lieben oder hassen?
 
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Zu deiner Stirne Herrscherthron,
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Wo die Gedanken leisten Fron
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Wie Knechte, würd' ich schüchtern blicken;
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Doch von des Auges kaltem Glast,
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Voll toten Lichts, gebrochen fast,
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Gespenstig, würd', ein scheuer Gast,
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Weit, weit ich meinen Schemel rücken.
 
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Und was den Mund umspielt so lind,
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So weich und hülflos wie ein Kind,
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Das möcht' in treue Hut ich bergen;
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Und wieder, wenn er höhnend spielt,
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Wie von gespanntem Bogen zielt,
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Wenn leis' es durch die Züge wühlt,
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Dann macht' ich fliehen wie vor Schergen.
 
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Es ist gewiß, du bist nicht ich,
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Ein fremdes Dasein, dem ich mich
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Wie Moses nahe, unbeschuhet,
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Voll Kräfte die mir nicht bewußt,
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Voll fremden Leides, fremder Lust;
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Gnade mir Gott, wenn in der Brust
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Mir schlummernd deine Seele ruhet!
 
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Und dennoch fühl' ich, wie verwandt,
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Zu deinen Schauern mich gebannt,
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Und Liebe muß der Furcht sich einen.
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Ja, trätest aus Kristalles Rund,
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Phantom, du lebend auf den Grund,
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Nur leise zittern würd' ich, und
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Mich dünkt - ich würde um dich weinen!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.9 KB)

Details zum Gedicht „Das Spiegelbild“

Anzahl Strophen
6
Anzahl Verse
42
Anzahl Wörter
241
Entstehungsjahr
1797 - 1848
Epoche
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Das Spiegelbild“ wurde von Annette von Droste-Hülshoff geschrieben, einer bekannten deutschen Dichterin der Biedermeierzeit. Geboren wurde sie im Jahre 1797 und verstorben im Jahre 1848, was die zeitliche Einordnung dieses Gedichts in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ermöglicht.

Beim ersten Lesen des Gedichts fällt auf, dass sich das lyrische Ich intensiv mit seinem eigenen Spiegelbild auseinandersetzt. Die Worte und Ausdrücke des lyrischen Ichs lassen auf eine unsichere und ambivalente Beziehung zu dem eigenen Selbstbild schließen.

Grundsätzlich geht es in diesem Gedicht um eine intensive Selbstbetrachtung. Das lyrische Ich schaut in den Spiegel und ist von dem Bild, das es von sich sieht, zugleich fasziniert und abgeschreckt. Es erkennt Teile von sich selbst, die es zugleich lieben und hassen könnte und ist von der Ahnung durchdrungen, dass in sich noch unbekannte, vielleicht sogar gefährliche Aspekte schlummern könnten.

Die Form des Gedichts folgt keinem klassischen Reimschema, wirkt aber durch die konsequente Unterteilung in jeweils sieben Verse dennoch strukturiert. Sprachlich beeindruckt das Gedicht durch seine intime, fast schon verstörende Nahbarkeit. Der Sprachgebrauch ist dabei gleichzeitig sehr bildhaft und metaphorisch. Insbesondere die wiederholte Bezugnahme auf das Spiegelbild als „Phantom“ und die zahlreichen Beschreibungen von Angst und Unsicherheit unterstreichen die emotionale Tiefe und Intensität, mit der sich das lyrische Ich mit der eigenen Identität auseinandersetzt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Das Spiegelbild“ von Annette von Droste-Hülshoff ein tiefgründiges und emotionales Gedicht über die ambivalente und unsichere Auseinandersetzung mit der eigenen Identität ist. Es zeichnet sich durch seine bildhafte Sprache und Metaphorik sowie seine intime und persönliche Darstellung der Selbstbetrachtung aus.

Weitere Informationen

Annette von Droste-Hülshoff ist die Autorin des Gedichtes „Das Spiegelbild“. Geboren wurde Droste-Hülshoff im Jahr 1797 . In der Zeit von 1813 bis 1848 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten der Autorin her der Epoche Biedermeier zuordnen. Droste-Hülshoff ist eine typische Vertreterin der genannten Epoche. Das 241 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 42 Versen mit insgesamt 6 Strophen. Weitere Werke der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff sind „Am Letzten Tag des Jahres - Silvester“, „Am Fronleichnamstage“ und „Kurt von Spiegel“. Auf abi-pur.de liegen zur Autorin des Gedichtes „Das Spiegelbild“ weitere 123 Gedichte vor.

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