Der Liebesbrief von Heinrich Seidel
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Gar eilig wandert in den Wald |
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Ein Fräulein zierlich von Gestalt. |
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Wie flink die muntren Füsse schreiten, |
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Bis in des Waldes Einsamkeiten |
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Verschwiegen sie das Grün umschliesst, |
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Und jeder Lauscher Ferne ist. |
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So denkt die Schöne - doch verborgen |
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Sass hier schon seit dem frühen Morgen |
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Der kleine Waldgnom Knickebolz |
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Und schnitzte was aus Eibenholz. |
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Es war so still, der Westwind schlief, |
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Nur fern im Grund die Amsel rief |
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Und durch die Stämme mit Geflimmer |
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Kam roth der Abendsonne Schimmer. |
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Das Fräulein setzte sich in's Gras |
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Und zog hervor und las und las |
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In einem rosarothen Brief ... |
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Sie athmete und seufzte tief. |
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Mit Augen, die begierig flogen, |
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Ward schnell der Inhalt aufgesogen, |
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Sie las ihn wieder, immer wieder, |
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Ihr Busen wogte auf und nieder, |
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Sie hat zugleich gelacht, geweint, |
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Wie Sonne, die durch Regen scheint, |
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Das Brieflein an das Herz gedrückt |
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Und oft geküsst. |
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"Sie ist verrückt!" |
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So dacht' bei seinem Eibenholz |
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Der kleine Waldgnom Knickebolz. |
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"Wie kann ein Mensch von Geistesgaben |
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Sich so um ein Papierchen haben, |
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Es ist fürwahr nicht zu verstehn! |
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Doch möchte ich das Ding wohl sehn, |
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Worüber diese weint und lacht, |
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Ob es auch mich so unklug macht." |
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Das Fräulein nun in Träumerein |
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Sah in den roten Abendschein ... |
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Das Brieflein sank in's grüne Gras ... |
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Der kleine Waldgnom merkte das |
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Und schlich heran und stahl den Brief |
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Und rannte fort und lief und lief, |
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Bis er sich in den Dämmernissen |
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Des Waldes mochte sicher wissen. |
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Schon dunkel ward es rings umher, |
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Drum freute sich das Männchen sehr, |
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Als grad sein Vetter Brümmer kam, |
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Der die Laterne mit sich nahm. |
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"O Vetter, Vetter, welch' ein Spass!" |
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So rief er und erzählt' ihm das. |
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"Nun leuchte mal mit der Laterne! |
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Ich wüsste für mein Leben gerne, |
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Wie dies Papierchen nur es macht, |
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Dass man darüber weint und lacht! |
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Die Farbe kann es doch nicht sein? |
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Und der Geruch? Zwar riecht es fein, |
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Doch jede Rose duftet mehr. |
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Mit Krakelfüssen hin und her |
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Ist es gar wunderlich beschmiert |
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Und nicht zum Besten ausgeziert. |
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Das Ding ist nichts! Ein rosa Lappen! |
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Wie kann man davon überschnappen?! |
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Ich sage: lieber Vetter Brümmer, |
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Die Menschen werden immer dümmer, |
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Besonders was die Weiber sind, |
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Die haben nichts im Kopf als Wind. |
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Was hilft's, dass Weise drüber lachen? |
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Es wird sie doch nicht klüger machen, |
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Denn was nicht grad ist, das ist krumm, |
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Und was zu dumm ist, ist zu dumm!" |
Details zum Gedicht „Der Liebesbrief“
Heinrich Seidel
1
69
397
1842 - 1906
Realismus,
Naturalismus,
Moderne
Gedicht-Analyse
„Der Liebesbrief“ ist ein Gedicht des Dichters Heinrich Seidel, der im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert lebte. Seidels Gedichte sind oft von Humor und einer liebevollen Darstellung der Natur gekennzeichnet, was auch in diesem Text zum Ausdruck kommt.
Auf den ersten Blick wirkt das Gedicht humorvoll und bildhaft, da es eine alltägliche Szene, eine junge Frau, die einen Liebesbrief lesen, und einen neugierigen Waldgnom darstellt. Die Verse sind klar und leicht verständlich, was den Text zugänglich macht.
Inhaltlich liegt der Fokus auf dem Kontrast zwischen der menschlichen Natur und der Sichtweise des Waldgnoms. Während das Mädchen tief bewegt von dem rosaroten Brief ist und even emotional darauf reagiert – sie lacht und weint gleichzeitig –, kann der Gnom, der den Brief stiehlt, überhaupt nicht nachvollziehen, warum das Mädchen so emotional reagiert. Er interpretiert den Liebesbrief als bloßes Stück Papier und kann nicht nachvollziehen, dass so etwas einfaches wie ein Stück Papier solche starken Emotionen auslösen kann. Dies unterstreicht die begrenzte Perspektive des Gnoms, der offenbar keine Vorstellung von menschlichen Gefühlen hat und den emotionalen Wert des Briefes nicht erkennen kann.
Formal gesehen besteht das Gedicht aus 69 Versen, die in einer durchgehenden Strophe arrangiert sind. Es folgt kein festes Reimschema, die Verse sind jedoch meistens jambisch. Das Fehlen einer klaren Struktur spiegelt dabei die Perspektive des Gnoms wider, der die menschliche Welt und ihre Gefühle nicht versteht.
Die Sprache ist einfach und klares Deutsch, was den Text zugänglich macht. Bilder wie „Der Fräulein setzte sich in's Gras / Und zog hervor und las und las / In einem rosarothen Brief“ erzeugen eine lebendige Atmosphäre und ermögliches es dem Leser, sich die Szene vorzustellen. Humor wird durch die Gedanken des Gnoms erzeugt, der die menschlichen Emotionen als albern und unverständlich bezeichnet. Gleichzeitig kann die Schlussfolgerung des Gnoms, dass die Menschen „immer dümmer“ werden, als Ironie verstanden werden, da er selbst die menschlichen Emotionen nicht versteht.
Insgesamt lässt sich sagen, dass „Der Liebesbrief“ ein humorvolles Gedicht ist, das das Verständnis von Gefühlen in einer humorvollen Weise darstellt. Dabei verwendet Seidel eine einfache Sprache und klare Bilder, um den Kontrast zwischen der menschlichen und der „gnomischen“ Perspektive hervorzuheben.
Weitere Informationen
Heinrich Seidel ist der Autor des Gedichtes „Der Liebesbrief“. Im Jahr 1842 wurde Seidel in Perlin (Mecklenburg-Schwerin) geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1858 und 1906. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Realismus, Naturalismus oder Moderne zuordnen. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Basis geschehen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben bei Verwendung. Das Gedicht besteht aus 69 Versen mit nur einer Strophe und umfasst dabei 397 Worte. Weitere bekannte Gedichte des Autors Heinrich Seidel sind „Der Luftballon“, „April“ und „Die Musik der armen Leute“. Zum Autor des Gedichtes „Der Liebesbrief“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 216 Gedichte vor.
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Zum Autor Heinrich Seidel sind auf abi-pur.de 216 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
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