Der Milchbrunnen von Heinrich Seidel

Fern in jenen blauen Bergen
In der Einsamkeit des Waldes,
Rings umrahmt von urgewalt'gen
Weitverzweigten Riesentannen,
Liegt in ew'gem Frühlingsglanze
Eine wundersame Wiese.
Niemand weiss den Ort zu sagen,
Längst verloren ging die Kunde
Und die Pfade sind vergessen.
 
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Wunderbar, ein seltner Bronnen
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Rieselt aus dem Wiesengrunde:
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Süsse Milch statt klaren Wassers
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Rinnt aus der gefüllten Schale,
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Und im Regenbogenglanze
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Blühn im Umkreis mächt'ge Blumen,
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Deren Kelche, deren Becher
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Süsser Himmelshonig anfüllt.
 
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Dorthin trägt die Mutter Gottes
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In den stillen Mondscheinnächten
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Gern die mutterlosen Kindlein,
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Nährt sie mit dem goldnen Honig
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Lässt sie an der Silberquelle
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Freudiges Gedeihen trinken.
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Und sie wiegt sie auf den Armen,
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Und aus Ihren Himmelsaugen
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Strahlt auf die so früh Verlassnen
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Göttlich reine Mutterliebe.
 
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Wer es weiss, der kann es sagen,
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Wenn so Holdes sich ereignet,
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Denn es lächelt in der Wiege
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Dann das mutterlose Kindlein,
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Und auf seinem rosgen Antlitz
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Liegt es wie ein seliger Schimmer
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Aus der goldnen Himmelsheimath.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.1 KB)

Details zum Gedicht „Der Milchbrunnen“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
34
Anzahl Wörter
156
Entstehungsjahr
1842 - 1906
Epoche
Realismus,
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der Milchbrunnen“ wurde von Heinrich Seidel, einem deutschen Ingenieur und Schriftsteller, der von 1842 bis 1906 lebte, verfasst. Dabei stellt es ein romantisches und volkstümlich geprägtes Werk dar, was sich zeitlich dem Realismus zuordnen lässt.

Schon beim ersten Lesen fällt die verträumte und bildgewaltige Darstellung auf. Seidel beschreibt eine geheimnisvolle, paradiesisch wirkende Wiese tief in den Bergen - ein Ort voller Wunder und Schönheit, aber auch Isolation. Der Titel „Der Milchbrunnen“ nimmt Bezug auf einen besonderen Ort in dieser Landschaft, an dem statt Wasser süße Milch fließt und ringsum übergroße Blumen blühen, gefüllt mit Himmelshonig.

Inhaltlich dreht sich das Gedicht um die Erzählung dieses wunderlichen Ortes und die spezielle Rolle der Mutter Gottes, die mutterlose Kinder dorthin bringt, um sie mit der goldenen Himmelsnahrung zu ernähren und ihre mütterliche Liebe zu spenden. Dabei verdeutlicht Seidel neben der Hervorhebung der Mutterliebe auch die göttliche Fürsorge und den Trost, den Religion bieten kann.

Die Form des Gedichts weist keine strenge Strophen- oder Versform auf, jedoch ist die Sprache reich an bildhaften Metaphern und starkem Symbolismus, welcher eine mystische Atmosphäre erzeugt. Für den lebhaften und märchenhaften Charakter des Gedichts sind insbesondere die detaillierten Beschreibungen und das Spiel mit natürlichen Farben und Lichteffekten ausschlaggebend.

Seidels Sprache ist romantisch und träumerisch, aber auch altertümlich und formell. Er nutzt eine Fülle von Adjektiven, um seine Szenen zu malen und schafft so ein reiches, visuelles Bild der Wiese und ihrer Wunder. Durch den Einsatz von Superlativen („urgewalt'gen“, „weitverzweigten“, „wundersame“, „mächt'ge“) wird die Mystik und die Üppigkeit der Szenerie noch unterstrichen. Die Formulierung „versuchen“ und „vergessen“ im Zusammenhang mit dem Weg zu diesem Ort unterstreicht zudem die geheimnisvolle und unzugängliche Natur dieses Ortes.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der „Milchbrunnen“ ein hoffnungsvolles, tröstendes Bild von göttlicher Fürsorge und mütterlicher Liebe malt und dabei die Mystik der Natur und ihre Fähigkeit, Wunder zu erzeugen, hervorhebt.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Der Milchbrunnen“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Heinrich Seidel. Im Jahr 1842 wurde Seidel in Perlin (Mecklenburg-Schwerin) geboren. In der Zeit von 1858 bis 1906 ist das Gedicht entstanden. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Realismus, Naturalismus oder Moderne zugeordnet werden. Prüfe bitte vor Verwendung die Angaben zur Epoche auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich Literaturepochen zeitlich überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung häufig mit Fehlern behaftet. Das Gedicht besteht aus 34 Versen mit insgesamt 4 Strophen und umfasst dabei 156 Worte. Weitere Werke des Dichters Heinrich Seidel sind „Der Tod Moltkes“, „Wälder im Walde“ und „Die Schwalbe“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Der Milchbrunnen“ weitere 216 Gedichte vor.

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