Die Todeslilie von Heinrich Seidel

Einst zu Corvay an der Weser
Ward im Kloster jedem Mönche
Kundig seine letzte Stunde,
Denn drei Tage vor dem Tode
Lag in seinem Kirchenchorstuhl
Eine silberweisse Lilie,
Und er schickte sich zum Sterben,
Ordnete die letzten Dinge,
Beichtete, nahm seinen Abschied
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Von den mönchischen Genossen,
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Und nach dreien Tagen tönte
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Hoch vom Thurm das Sterbeglöcklein.
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In dem Kloster einst zu Corvay
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War ein Mönch, den trieb der Ehrgeiz
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Zu verwerflich böser Unthat,
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Und dem greisen Prior legte
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Nächtlich er in seinen Chorstulil
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Eine silberweisse Lilie.
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Mächtig drob erschrack der Alte,
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Sank dahin auf's Krankenlager,
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Und nach dreien Tagen tönte
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Hoch vom Thurm das Sterbeglöcklein.
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Prior ward an seiner Stelle
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Nun der Mönch, doch fasst' ihn Reue.
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Finster und verschlossen brütend
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Lebt' er ruhlos seine Tage.
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Ob er schlief und ob er wachte,
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Immer schwebte ihm vor Augen
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Jene weisse Todeslilie,
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Und mit angstvoll scheuen Blicken
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Mieden seine finstern Augen
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Hinzuschaun auf jenen Chorstuhl.
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Also schwanden seine Kräfte,
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Und es bleichten seine Wangen,
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Und aus ihren finstern Höhlen
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Stierten seine Augen glanzlos.
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Da, als wieder eines Tages
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Er den Schritt zum Chore lenkte.
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Sank er hin mit heiserm Aufschrei,
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Denn es lag in seinem Chorstuhl
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Nicht wie sonst die silberweisse,
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Nein, es lag dort feuerglänzend
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Eine blutigrothe Lilie.
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Auf dem Krankenbett voll Reue
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Beichtete er seine Unthat,
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Und nach dreien Tagen tönte
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Hoch ,vom Thurm das Sterbeglöcklein
 
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Nimmer sah nach diesen Zeiten
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Man im Chore dieses Klosters
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Jene weisse Todeslilie,
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Und zu Corvay an der Weser
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Starben ungewarnt die Mönche.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.1 KB)

Details zum Gedicht „Die Todeslilie“

Anzahl Strophen
2
Anzahl Verse
52
Anzahl Wörter
250
Entstehungsjahr
1842 - 1906
Epoche
Realismus,
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die Todeslilie“ wurde von Heinrich Seidel, einem deutschen Schriftsteller und Ingenieur, zwischen 1842 und 1906 verfasst. Sein literarisches Schaffen ist der Epoche des Realismus zuzuordnen.

Bei der ersten Lektüre sticht die Erzählstruktur des Gedichts bereits hervor, was durch deren Versform und deutliche Handlungsstränge gekennzeichnet ist. Es handelt sich um eine moralische Geschichte in Versform.

Das Gedicht erzählt die Geschichte eines Klosters zu Corvay an der Weser, in dem jeder Mönch vor seinem Tod eine silberweiße Lilie in seinem Kirchenchorstuhl findet. Dies signalisiert ihm seinen nahenden Tod, was ihm ermöglicht, sich auf das Sterben vorzubereiten. Doch ein ehrgeiziger Mönch missbraucht dieses Wissen und legt dem greisen Prior eine Lilie in den Chorstuhl, um dessen Platz einzunehmen. Dieses Verbrechen belastet ihn anschließend schwer. Er leidet unter Schuldgefühlen und sieht ständig eine Todeslilie vor seinen Augen schweben. Am Ende findet er selbst eine rote Lilie in seinem Chorstuhl, die Inszenierung seines eigenen Todes. Er beichtet seine Tat und stirbt danach. Nach diesen Ereignissen erscheinen in dem Kloster keine Todeslilien mehr.

Das lyrische Ich, das hier gleichzeitig der Erzähler der Geschichte ist, betont die moralische Dimension des Geschehens. Die hinterlistige Tat des Mönchs wird als verwerflich dargestellt und die Auswirkungen seiner Schuldgefühle werden eindringlich beschrieben. Seine „finstern Augen“ symbolisieren seine innere Finsternis und Schuldgefühle.

Die Form des Gedichts unterstützt die narrative Struktur der Erzählung. Es besteht aus zwei Strophen mit insgesamt 52 Versen. Die Sprache ist klar und deutlich; es dominieren Enjambements, die den Fluss der Handlung unterstützen. Dazu verwendet Seidel schlichte, aber eindrückliche Metaphern, wie etwa die Todeslilie, um die thematischen Aspekte von Tod, Schuld und Sühne zu unterstreichen.

Ganz grundlegend kann das Gedicht als eine Mahnung verstanden werden, das sich gegen Hinterlist und Ehrgeiz auf Kosten Anderer ausspricht und für Ehrlichkeit und Reue plädiert.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Die Todeslilie“ ist Heinrich Seidel. 1842 wurde Seidel in Perlin (Mecklenburg-Schwerin) geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1858 bis 1906 entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Realismus, Naturalismus oder Moderne kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Vor Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und daher anfällig für Fehler. Das vorliegende Gedicht umfasst 250 Wörter. Es baut sich aus 2 Strophen auf und besteht aus 52 Versen. Weitere Werke des Dichters Heinrich Seidel sind „Die Gaben“, „Der Luftballon“ und „April“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Die Todeslilie“ weitere 216 Gedichte vor.

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