Weltflucht von Heinrich Seidel
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Wie ist mir verhasst der hässliche Hader, |
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Das tosende Toben aller Parteien, |
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Das ewige zänkische Zeitungsgezeter, |
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Das krausverwirrte trübe Gewäsch. |
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Mit schwarzem Pinsel malt jeder den andern |
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Und klext ihm Tintenklexe in's Antlitz |
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Und schimpft ihn Verräther und Vaterlandsfeind. |
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Des Volkes Vortheil wahren nur Wen'ge. |
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Doch alle schwören mit grossem Geschrei: |
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Des Volkes Wohlfahrt, das sei ihr Wille. |
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Indessen streben entschlossene Streber, |
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Indessen jagen die Stellenjäger, |
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Und wo nur Verdienst und Vortheil sich findet, |
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Da wimmelt es gleich aus allen Winkeln, |
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Den gierig gefrässigen Aemsen vergleichbar, |
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Und zerrt sich die besten Bissen vom Munde |
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Und haut sich und hackt sich in hässlichem Hader, |
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Beutegierig wie bissige Geier! |
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Da möchte' ich wohl manchmal über des Meeres |
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Wallende Wogen weit mich wünschen, |
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Wo rings am Rande der weiten Prärien |
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Friedlich der Urwald rauscht in der Runde, |
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Und seiner ragenden Stämme Geäst |
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Sich spiegelt im Saume silberner Seen. |
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Dort fing' ich den Stör aus der frischen Feuchte |
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In der Barke aus Birkenborke gebaut, |
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Und den laichenden Lachs, wo durch die Lichtung |
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Rieselnd und rauschend rinnen die Bäche. |
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Dort jagt' ich den Hirsch und den hüpfenden Hasen, |
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Den braunen Bären, das bunte Birkhuhn, |
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Dort pflanzte ich Mais und milde Melonen, |
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Und was zur Nahrung noch nützlich und nöthig, |
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Fruchtbäume auch, die fröhlich im Frühling |
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Mit lieblichem Leuchten das Blockhaus umblühn. |
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Des Abends dann wohl, wenn über des Waldes |
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Schlummernde Wipfel die Nacht herabsinkt, |
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Am lodernden Feuer läg' ich lässig |
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Auf selbst erbeuteter Haut des Bären. |
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Nach harter Arbeit hold mich zu ruhn, |
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Und freute mich froh des frommen Friedens |
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Und dass ich fern von Zank und Gezeter |
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Und Hass und Hader - behaglich und heiter |
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Ruhte am Busen der Mutter Natur. |
Details zum Gedicht „Weltflucht“
Heinrich Seidel
2
43
277
1842 - 1906
Realismus,
Naturalismus,
Moderne
Gedicht-Analyse
Das vorliegende Gedicht „Weltflucht“ wurde von Heinrich Seidel verfasst, der von 1842 bis 1906 lebte und somit in die Epochen des Biedermeier und Realismus einzuordnen ist.
Bereits der erste Eindruck des Gedichts lässt auf die zentrale Thematik der Weltflucht schließen: Das lyrische Ich distanziert sich von politischen Intrigen und einer unruhigen Gesellschaft und sehnt sich nach der Ruhe und dem Frieden der Natur.
Im Inhalt werden in der ersten Strophe politische Kämpfe, wirtschaftlicher Profit und egoistischer Vorteilsstreben kritisiert. Das lyrische Ich zeigt sich davon erschöpft und verabscheut die Bosheit und Unehrlichkeit der Menschen, die er mit dem Schwarzmalen und „Klexen“ von Tinte, also Lügen und Gerüchten, assoziiert. Es gibt an, dass nur wenige das beste für das Volk im Sinne haben, während viele vorgeben dies zu tun, jedoch nur ihre eigenen Interessen verfolgen. Das lyrische Ich beschreibt die Streitlust und Gier in der Gesellschaft als hässlich und geht in der zweiten Strophe dazu über, sich eine alternative Welt fernab des Getümmels vorzustellen. Hier stehen statt Streit und Hektik Natur und Ruhe im Vordergrund. Es wünscht sich in eine Welt, in der es in der Natur lebt und jagt, seinen eigenen Bedarf selbst deckt und abends nach getaner Arbeit in Frieden zur Ruhe kommt, fern von politischen Streitereien und gesellschaftlichen Zwängen.
Bezüglich der Form und der Sprache des Gedichts ist auffällig, dass Seidel gedankliche Parallelen durch eine konsequente Alliteration herausarbeitet, was die antithetische Struktur des Gedichts betont. Außerdem sind die Zeilen zum Großteil im Vierheber geschrieben und weisen jeweils einen männlichen oder weiblichen Reim auf. Die Syntax ist hauptsächlich einfach und direkt gehalten, mit Ausnahme einiger komplexer Satzstrukturen zum Ende der ersten Strophe hin.
Insgesamt drückt Seidel in seinem Gedicht „Weltflucht“ seine Unzufriedenheit mit der Gesellschaft aus und stellt diese dem Idealbild einer friedlichen und einfachen Lebensweise in der Natur gegenüber.
Weitere Informationen
Heinrich Seidel ist der Autor des Gedichtes „Weltflucht“. Geboren wurde Seidel im Jahr 1842 in Perlin (Mecklenburg-Schwerin). In der Zeit von 1858 bis 1906 ist das Gedicht entstanden. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Realismus, Naturalismus oder Moderne zugeordnet werden. Die Richtigkeit der Epochen sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das Gedicht besteht aus 43 Versen mit insgesamt 2 Strophen und umfasst dabei 277 Worte. Weitere Werke des Dichters Heinrich Seidel sind „Der Zug des Todes“, „Der Tod Moltkes“ und „Wälder im Walde“. Zum Autor des Gedichtes „Weltflucht“ haben wir auf abi-pur.de weitere 216 Gedichte veröffentlicht.
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Zum Autor Heinrich Seidel sind auf abi-pur.de 216 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
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