Wälder im Walde von Heinrich Seidel
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"Langweilig ist der Kiefernwald?" |
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Mein Freund, das widerrufst du bald! |
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Da denk' ich wohl, du sahst ihn nimmer, |
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Wenn röthlich in den Wipfeln träumt |
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So still der letzte Sonnenschimmer, |
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Und alles rings mit Gold sich säumt. |
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Wenn sanfte Sehwermuth wie ein Duft |
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Liegt in der weichen Abendluft, |
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Und sich der Wald im letzten Strahle |
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Abspiegelt in dem glatten See, |
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Indess zum Wiesengrund im Thale |
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Vorsichtig zieht das schlanke Reh, |
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Und bei der Drossel letztem Liede |
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Sich niedersenkt der Abendfriede. |
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Doch auch im stillen Sonnenschein |
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Und bei des Mittags heissen Lüften, |
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Wo alles schwimmt in harz'gen Düften, |
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Da wandr' ich gerne dort allein. |
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Zu häüpten nur ein sanftes Singen, |
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Und niederwärts im sonn'gen Kraut |
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Ein Wetzen, Schwirren und ein Klingen. |
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Am Sandhang stehn die Schwebefliegen, |
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Und die Perlmutterfalter wiegen |
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Am Thymian sich. - Sonst kaum ein Laut, |
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Als aus der hohen Luft zuweilen, |
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Wo der Milan die Kreise schwingt, |
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Ein ferner Schrei. - Die Ammer singt |
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Verschlafen ihre kurzen Zeilen |
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Am Waldesrand. Auch flötet wohl |
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Versteckt im Wipfel ein Pirol. |
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Hier schreit ein Häher rauh und eigen, |
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Dort klopft ein Specht. |
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Dann wieder Schweigen. |
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Doch wenn das rothe Stammgewimmel, |
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In dessen Wipfeldecke blaut |
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Manch zackig Stück vom Sommerhimmel, |
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Der müde Blick genug geschaut, |
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Da magst du ihn zum Boden senken, |
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Und neue Wunder wirst du sehn: |
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Ein zierlich Wäldchen siehst du stehn, |
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Viel schöner, als du mochtest denken, |
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Von Heidekraut und Heidelbeeren. |
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Die kleinen Bäumchen stehn so zierlich, |
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So feinverzweigt und so manierlich, |
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Als ob der wahre Wald sie wären. |
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Viel Thierchen halten darin Haus: |
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Das Hochwild ist die braune Maus, |
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Eidechsen huschen dort am Grunde, |
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Und Käfer krabbeln durch das Laub. |
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Die Spitzmaus schnüffelt dort nach Raub, |
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Und in der sonn'gen Mittagsstunde, |
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Da fliegt um seine niedern Wipfel |
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Manch Schmetterling mit buntem Tipfel |
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Und bietet seine Pracht zur Schau: |
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Gelb, hellbraun, feuerfarb und blau. |
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Bist du auch dieses Anblicks müd, |
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Da mag dein Blick noch tiefer steigen: |
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Ein drittes Wäldchen wird sich zeigen, |
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Darin es eifrig lebt und blüht. |
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Und wahrlich keines von den schlechten: |
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Es baut sich auf aus Moos und Flechten, |
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Und sieh, wie reizend es sich zeigt: |
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Hier zierlich tannenbaumverzweigt, |
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Dort fein verästelt wie Korallen, |
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Und hier bebechert und beknopft, |
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Dort Keulchen siegellackbetropft, |
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Und hier Trompetchen, die nicht schallen. |
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Und in dem wunderwinz'gen Wald, |
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Wie es von tausend Thierchen wimmelt, |
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Wie's lebt und webt und kriecht und krimmelt |
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Und von den feinsten Stimmlein schallt! |
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Und scheint das Völkchen noch so nichtig, |
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Sie treiben es genau so wichtig |
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Wie all die Grossen ringsumher |
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Und freun sich ihres Lebens sehr! |
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Nun, lieber Freund, ich frage wieder: |
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Schlägst du nicht deine Augen nieder |
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Und sprichst beschämt: "Man irrt sich bald! |
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Ich bin besiegt und ganz geschlagen |
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Und will es niemals wieder sagen: |
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Langweilig ist der Kiefernwald!" |
Details zum Gedicht „Wälder im Walde“
Heinrich Seidel
7
81
456
1842 - 1906
Realismus,
Naturalismus,
Moderne
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „Wälder im Walde“ wurde von Heinrich Seidel verfasst, welcher im 19. Jahrhundert, genauer zwischen 1842 und 1906, lebte.
Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht detailliert und sorgfältig ausgearbeitet. Es scheint, eine innere Verbindung zur Natur zu ergründen.
Das lyrische Ich geht auf die vielfache Natur und Schönheit eines Kiefernwaldes ein und tut dies in Reaktion auf den Vorwurf eines Freundes, dieser Wald sei langweilig. Es ist eine Aufforderung dazu, der Natur mehr Aufmerksamkeit und Respekt zu schenken, und wirkt gleichzeitig wie eine leidenschaftliche Verteidigung des Waldes. Es gibt dabei die unterschiedlichen Aspekte des Waldes mit seinen vielfältigem Leben wieder: Die Stimmung während unterschiedlicher Tageszeiten, die Tier- und Pflanzenvielfalt vom Großen bis ins Kleinste. Das Gedicht endet mit der klaren Behauptung, niemand dürfe einen Wald als langweilig bezeichnen, wenn er wirklich hinschaut.
Das Gedicht besteht aus sieben Strophen in recht unterschiedlichen Längen von nur zwei bis hin zu 22 Versen. Die Versform ist ein Paarreim in vierhebigen Jamben. Die Sprache und Wortwahl des Gedichts sind ausgereift und genau, und Seidel nutzt lebendige Metaphern und Beschreibungen, um die Vielfalt und Schönheit des der Natur darzustellen. Er schafft es, den Leser in eine intensive, nahezu sensorische Erfahrung des Waldes zu versetzen. Hier zeigt sich Seidels Affinität zur Natur und zur präzisen wissenschaftlichen Auseinandersetzung damit. Insgesamt ist „Wälder im Walde“ ein leidenschaftlicher Aufruf zur Wertschätzung der Natur und zeigt eindrucksvoll die Faszination und Liebe des Autors zu dieser.
Weitere Informationen
Das Gedicht „Wälder im Walde“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Heinrich Seidel. Der Autor Heinrich Seidel wurde 1842 in Perlin (Mecklenburg-Schwerin) geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1858 und 1906. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Realismus, Naturalismus oder Moderne zu. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Basis geschehen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben bei Verwendung. Das vorliegende Gedicht umfasst 456 Wörter. Es baut sich aus 7 Strophen auf und besteht aus 81 Versen. Die Gedichte „Der Tod Moltkes“, „Die Schwalbe“ und „Winterfliegen“ sind weitere Werke des Autors Heinrich Seidel. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Wälder im Walde“ weitere 216 Gedichte vor.
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Zum Autor Heinrich Seidel sind auf abi-pur.de 216 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
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