Traunstein von Erich Mühsam
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„Ich leide für mein Volk." Wie groß das klingt! |
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„Ich leide, weil ich für die Wahrheit zeugte." |
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„Ich leide, weil ich nicht den Nacken beugte." |
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„Ich leide, weil in mir die Sehnsucht schwingt." |
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Ich leide? – Trink ich nicht den reinen Duft |
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der Waldesgründe und der bunten Wiesen? |
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Strömt von der strengen Stirn der Bergesriesen |
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nicht zu mir nieder freie Gottesluft? |
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Und sind nicht, die mir Kampfgefährten waren, |
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auf Jahr und Tag in Kerkernot gebannt, |
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in tausendfache Qualen eingespannt, |
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von denen ich die kleinsten nicht erfahren?... |
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Durch einen dumpfen Schacht dringt fahle Helle |
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zu ihnen als des Lebens einziger Gruß. |
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Beim sechsten Schritt gehemmt durcheilt ihr Fuß |
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unruhig drängend die versperrte Zelle. |
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Und während sie die Kerkerwand umschließt |
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und sie um Nachricht von den Menschen bangen, |
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seh ich und hör ich, bin ich gleich gefangen, |
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und freu mich, wie ringsum der Frühling sprießt. – |
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Ist das schon Leiden, daß mich Fäuste griffen, |
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und daß mich feindliche Gewalt belauert? |
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Wer um ein paar Bequemlichkeiten trauert, |
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dem hat die Not der Zeit nichts abgeschliffen. |
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Und doch: ich leide und bekenne Leiden, |
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weil Menschen im Gefolg von Trug und Lügen |
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uns andern trachten Drangsal zuzufügen |
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und unserm Ruf das Stimmband zu durchschneiden. |
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Ich leide, weil das Volk, getäuscht, verblendet |
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Unrecht geschehn läßt, Unrecht trägt und tut, |
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und weil es in den Sumpf von Qual und Blut |
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tyrannenfürchtig seine Männer sendet. |
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Ich leide, weil aus Feigheit und aus Schande |
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das Volk sich Kränze feilen Ruhmes flicht. |
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Ich leide, weil das Herz der Besten bricht, |
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die Treue hielten ihrem Volk und Lande... |
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So darf ich leiden. Denn auch ich hielt Treue |
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und ward dafür geschmäht, bespien, verbannt. |
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Doch in die Seele glühend eingebrannt |
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lebt mir der Glaube an das starke Neue. |
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Das Leid verklärt sich mir zum frommen Schauer. |
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Gruß, Freunden euch im Kerker! Nicht verzagt! |
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Trug sinkt in Nacht. Und wenn der Morgen tagt, |
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gehn wir ans Werk – der Freiheit die Erbauer. |
Details zum Gedicht „Traunstein“
Erich Mühsam
4
44
316
1920
Expressionismus
Gedicht-Analyse
Dieses Gedicht mit dem Titel „Traunstein“ vom politisch engagierten Autor Erich Mühsam (* 6. April 1878, † 10. Juli 1934) stammt aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mühsam war neben seiner Arbeit als Schriftsteller auch als Revolutionär tätig und litt unter der repressiven Politik von Nazi-Deutschland. Das geht auch aus dem Gedicht hervor.
Auf den ersten Blick befasst sich das Gedicht mit dem Thema des Leidens. Es scheint, dass der Autor versucht, seine Erfahrungen des Leidens, seine Gedanken und Gefühle auf poetische Weise zu teilen und zu reflektieren.
In den ersten vier Versen des Gedichts betont das lyrische Ich, dass es für sein Volk, die Wahrheit, seine Ideale und die Sehnsucht leidet. In den folgenden Versen stellt das lyrische Ich infrage, ob es überhaupt leidet, da es trotz seiner Haft die Freiheit der Natur und den Frühling genießen kann. Es vergleicht sein Leiden mit dem der „Kampfgefährten“, die in Kerkern gelitten haben und unterdrückt wurden.
In den weiteren Versen erkennt das Ich, dass es leidet, aber das Leiden ist nicht auf körperliche Qual oder Verlust von Bequemlichkeiten zurückzuführen. Vielmehr ist das Leiden das Ergebnis von Menschen, die es verfolgen, Unrecht tun und seine Stimme unterdrücken. Das Leid des lyrischen Ichs ist symbolisch und repräsentiert die Unterdrückung und das Leiden von vielen Menschen in seiner Zeit.
Formal ist das Gedicht in vier Strophen unterteilt. Es nutzt überwiegend einen freieren Vers und Rhythmus und keine einheitliche Reimstruktur. Die Sprache des Gedichts ist stark und ausdrucksstark, mit lebendigen Bildern und Metaphern, die das Leiden des lyrischen Ichs darstellen. Trotz der Dunkelheit und Schwere des Themas endet das Gedicht jedoch mit einer positiven Note, einem Gruß an die Freunde und den Glauben an eine bessere Zukunft.
Zusammenfassend kann man sagen, dass „Traunstein“ ein starkes poetisches Statement ist, das nicht nur Mühsams persönliche Erfahrungen und Überzeugungen, sondern auch das politische Klima seiner Zeit widerspiegelt. Mühsams Dichtung ruft zur Wachsamkeit, zum Durchhalten und zum Glauben an „das starke Neue“ auf, trotz Unterdrückung und Leid.
Weitere Informationen
Das Gedicht „Traunstein“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Erich Mühsam. Mühsam wurde im Jahr 1878 in Berlin geboren. Im Jahr 1920 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist München. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Expressionismus zu. Bei Mühsam handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das 316 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 44 Versen mit insgesamt 4 Strophen. Weitere Werke des Dichters Erich Mühsam sind „An die Dichter“, „An die Soldaten“ und „Barbaren“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Traunstein“ weitere 57 Gedichte vor.
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Zum Autor Erich Mühsam sind auf abi-pur.de 57 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
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