Johannisnacht im Münster von Louise Otto-Peters
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Johannisnacht! Johannisnacht, |
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Du senkst Dich mild hernieder, |
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An Stunden arm, doch reich an Macht |
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Voll Nachtigallenlieder. |
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Voll Sternenschein und Zauberglanz, |
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Ja selbst die Käfer funkeln, |
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Des Abendrotes Rosenkranz |
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Umblüt Dich noch im Dunkeln. |
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Und hallt es Mitternacht vom Turm |
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Auf Straßburgs Kathedrale – |
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Ein Glockenklang als läut’ es Sturm – |
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Beginnt mit einem male, |
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Rings in des Münsters weitem Schoß |
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Ein seltsam buntes Leben, |
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Bald sanftes Säuseln, bald Getos, |
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Ein Schwirren und ein Schweben. |
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Die Toten steigen aus der Gruft, |
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Die einst den Münster bauten, |
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Der Meister sie zur Stelle ruft, |
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Daß sie das Werk beschauten; |
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Das Werk, das noch den Meister lobt |
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Durch langer Zeiten Stürme, |
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Daß Kunst und Dauer wohl erprobt |
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Die Wölbung, wie die Türme. |
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Sarg und Gewölbe, Schloß und Thür |
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’s ist alles aufgesprungen! |
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Die Werkleut’ haben sich herfür |
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Aus ihrem Grab geschwungen. |
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Mit Zirkel und mit Meisterstab, |
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Das Richtscheit in den Händen, |
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So schweben sie hinauf, hinab – |
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Lang’ will der Zug nicht enden. |
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Mit Händedruck und frohem Blick |
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Sich grüßen die Genossen |
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Und denken an die Zeit zurück, |
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Die seit dem Bau verflossen. |
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Durch Streben, Gänge allzumal |
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Zum Turme kommt’s gezogen, |
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Um Säulen, Pfeiler und Portal |
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Unendlich Geisterwogen. |
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Am Himmel hält der Mond die Wacht, |
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Es flüstern Geisterklänge |
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Leis’ durch die stille, laue Nacht |
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Wie froher Engel Sänge; |
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Da schwirrt es sanft und rasch empor |
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Im Schiff und auf den Gräten, |
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Und sieh: auf Erwins Bau hervor |
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Der Meister ist getreten. |
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Erwin von Steinbach – sei gegrüßt! |
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Er schwebt zur höchsten Spitze, |
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Wie ihn des Mondes Licht umfließt |
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Auf seines Thrones Sitze! |
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Und zu ihm auf zur selben Zeit |
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Ein Mägdlein schwebt mit Winken, |
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Mit goldnem Haar und weißem Kleid, |
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Den Meißel in der Linken. |
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Jungfrau Sabina hold verklärt |
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Vom Sternenglanz umflossen, |
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Wie ist die Künstlerin geehrt |
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Von allen Werkgenossen! |
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„Mich trieb Begeistrung –“ spricht die Maid – |
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„Gott und der Kunst zu dienen, |
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So bin auch ich voll Freudigkeit |
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Zu dieser Stund’ erschienen.“ |
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Und alle neigen sich vor ihr |
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Und vor dem Meister nieder: |
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„Gegrüßt! gegrüßt! so sehen wir |
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Auf Jahr und Tag uns wieder. |
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Das ist der rechte Hüttentag, |
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Den freie Maurer halten, |
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Baubruder! komme was da mag! |
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Dies Werk wird nie veralten!“ |
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Und horch! da hallt es eins vom Turm |
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Auf Straßburgs Kathedrale. |
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Ein Glockenklang als läut’ es Sturm! |
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Und husch mit einem male |
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Vom Turm und in des Münsters Schoß |
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Ein Sausen und ein Brausen, |
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Bald sanftes Säuseln, bald Getos, |
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Bald innen und bald außen. |
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Dann alles still. – Zur Ruh’ hinab |
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Die Geister sind gegangen |
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Und alle hält das kühle Grab |
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Nun wieder still umfangen, |
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Bis wieder zur Johannisnacht |
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Zwölf Schläge sie befreien, |
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Und sie das Werk, das sie vollbracht, |
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Mit Segensgrüßen weihen. – |
Details zum Gedicht „Johannisnacht im Münster“
Louise Otto-Peters
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1840-1850
Realismus
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „Johannisnacht im Münster“ wurde von Louise Otto-Peters geschrieben, einer deutschen Schriftstellerin und Frauenrechtlerin aus dem 19. Jahrhundert. Die zeitliche Einordnung des Werks erfolgt somit in die Epoche des Biedermeiers und Vormärz, in welcher Otto-Peters aktiv war.
Beim ersten Lesen erzeugt das Gedicht einen fast mystischen Eindruck. Es spielt in einer Nacht der besonderen Macht und Magie, gefüllt mit Sternenschein, Nachtigallenliedern und dem Glühen von Käfern. Das Bild, das Otto-Peters malt, ist eines der Metaphysik und der geheimen Wunder, die sich in der Dunkelheit abspielen.
Inhaltlich handelt das Gedicht von einer mystischen Begebenheit in der Johannisnacht, die im Kontext des christlichen Johannisfestes steht, welches zur Sommersonnenwende gefeiert wird. In dieser Nacht erwecken die Glockenschläge von Straßburgs Kathedrale die verstorbenen Baumeister des Münsters aus ihren Gräbern. Diese Geister kehren zurück, um das Werk, das sie einst erschaffen haben, zu betrachten und zu bewundern. Sie tauschen freudige Grüße aus und erinnern sich an die vergangene Zeit. Die Passage erreicht ihren Höhepunkt mit dem Erscheinen des Meisterbaumeisters Erwin von Steinbach und seine Assistentin, die Jungfrau Sabina. Zu Ehren ihrer wird eine Versammlung der Freimaurer, der „Hüttentag“, abgehalten. Mit dem erneuten Läuten der Glocken verschwinden die Geister bis zur nächsten Johannisnacht.
In der Interpretation bedeutet dies, dass das lyrische Ich die Tatkraft, den Einfallsreichtum und das handwerkliche Geschick der Baumeister bewundert und feiert. Sie betont auch die Werte der Brüderlichkeit, Zusammenarbeit und die Wichtigkeit der künstlerischen und handwerklichen Tradition.
Formal ist das Gedicht in elf gleich lange Strophen von je acht Versen aufgeteilt. Sie folgen dem Reimschema aabbccdd und sind in einem fließenden, melodischen Rhythmus verfasst. Die Sprache ist bildreich und eindrücklich, mit Symbolik, die sowohl auf christlichen Traditionen als auch auf überlieferten Vorstellungen von Geistern und dem Übersinnlichen basiert.
Insgesamt schafft Otto-Peters mit „Johannisnacht im Münster“ ein bildhaftes und faszinierendes Gedicht, das sowohl die Schönheit und Magie der Nacht, die Wertschätzung für Handwerk und Kunst, als auch die Mystik des Übernatürlichen feiert. Dabei bedient sie sich einer klaren Struktur und einer Sprache, die sowohl einfache als auch tiefgründige Bilder hervorbringen kann.
Weitere Informationen
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Johannisnacht im Münster“ der Autorin Louise Otto-Peters. Die Autorin Louise Otto-Peters wurde 1819 in Meißen geboren. 1850 ist das Gedicht entstanden. Erschienen ist der Text in Leipzig. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten der Autorin lassen eine Zuordnung zur Epoche Realismus zu. Die Zuordnung der Epoche ist ausschließlich auf zeitlicher Basis geschehen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben bei Verwendung. Das 438 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 88 Versen mit insgesamt 11 Strophen. Louise Otto-Peters ist auch die Autorin für das Gedicht „An Alfred Meißner“, „An August Peters“ und „An Byron“. Zur Autorin des Gedichtes „Johannisnacht im Münster“ haben wir auf abi-pur.de weitere 106 Gedichte veröffentlicht.
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Zum Autor Louise Otto-Peters sind auf abi-pur.de 106 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
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