Auf dem Kynast von Louise Otto-Peters

Die Wolken hingen vom Gebirge nieder
Gespenstig ziehend um den finstern Wald,
Dampfende Nebel dehnten Riesenglieder
In grau und schwarz mit seltsamer Gestalt;
Doch hob sich draus auf waldumkränzter Höhe
Die alte Veste stolz und kühn hervor,
Daß sie die Wolken sich zu Füßen sehe
Als Weihrauch sie des Nebels Ziehn erkor.
 
Und durch die Nebel schritt ich ihr entgegen
10 
Und durch die Wolken eilte ich ihr zu
11 
Auf feuchten moosbedeckten Waldeswegen
12 
Zu des Gebirges stiller Totenruh.
13 
Bald klomm ich zu des Kynast höchstem Walle
14 
Und ließ die Blicke schweifen in die Runde –
15 
Da fuhr ich auf von eines Seufzers Schalle
16 
Und vor mir stand sie – Fräulein Kunigunde
 
17 
„Viel Ritter kamen einst um mich zu werben,
18 
Weil meine Schönheit, weil mein Gold sie zog;
19 
Ich aber wollt als freie Jungfrau sterben,
20 
Wenn nicht die Lieb mir mehr als Freiheit wog
21 
Drum sann ich, mich der Werber zu entschlagen,
22 
Ein listiges ein finstres Mittel aus –
23 
Sein Leben dacht ich würde keiner wagen,
24 
Für mich nicht wagen einen blut’gen Strauß.
 
25 
Doch kamen sie um Ruhm sich zu erringen,
26 
Den Ritt zu wagen um des Walles Ring.
27 
Doch konnte keinem je die That gelingen
28 
Und einer nach dem andern unterging.
29 
Da kam der eine, der mein Herz bezwungen,
30 
Daß es für ihn in heißer Liebe schlug
31 
Ich rief und hielt sein Knie ihm fest umschlungen
32 
„Hier meine Hand – Halt ein! es ist genug!“
 
33 
Er aber stieß mich fort und sprengt zum Rande
34 
Und ihm gelang der unheilvolle Ritt –
35 
Dann höhnt er mich, „Das that ich dir zur Schande,
36 
Zur Rache jedem, der hier Tod erlitt!“
37 
Im Zorne schön noch wie ein Rachegott,
38 
So sprach er es mit heldenstolzen Trieben –
39 
Da trug ich still der Andern Hohn und Spott,
40 
Doch trug ich nimmer das verratne Lieben!
 
41 
Und wo der andren Ritter Leichen lagen,
42 
Da eilt ich selber mir das Grab zu betten –
43 
Nun muß ich nächtlich umgehn noch und klagen
44 
Und Flüche hören an den öden Stätten;
45 
Und war es doch mein einziges Verbrechen,
46 
Nicht ohne Lieb zur Sklavin mich zu machen! –
47 
Das wollten nur die stolzen Männer rächen,
48 
Das ist’s, was sie noch heut an mir verlachen!“
 
49 
Das ist’s rief ich, das wird noch heut beschworen –
50 
Wir sind ja nichts – sie sind die Herrn der Welt.
51 
Es wird das Weib zur Sklavin nur geboren.
52 
So heißt der Spruch, das Urteil ist gefällt.
53 
Und weh dem Weibe, das sich kühn vermessen
54 
Und wo es liebt, sich liebend zu ergeben,
55 
Das nennt man thöricht nennt man pflichtvergessen,
56 
Nie fehlt die Hand den ersten Stein zu heben.
 
57 
Und weh dem Weibe, das sich kühn erhoben
58 
Und frei nach einem andern Ziele strebt,
59 
An einem andern Altar zu geloben
60 
Ein höhres Fühlen, das sein Herz durchbebt.
61 
Und weh dem Weibe, das mit festen Schritten
62 
Sich ob der Knechtschaft Schranken stolz erhebt –
63 
Ich weiß es, was ein solches Weib gelitten –
64 
Ich weiß auch: nicht umsonst hat es gelebt.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.6 KB)

Details zum Gedicht „Auf dem Kynast“

Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
64
Anzahl Wörter
483
Entstehungsjahr
1840-1850
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Auf dem Kynast“ wurde von Louise Otto-Peters verfasst, einer deutschen Dichterin und Frauenrechtlerin aus dem 19. Jahrhundert (geboren 1819, gestorben 1895). Die Quelle des Gedichts legt nahe, dass es ebenfalls in dieser Zeit, genauer: der literarischen Epoche des Realismus entstanden ist. Im Realismus war es durchaus üblich, soziale Ungleichheit und gesellschaftliche Herausforderungen zu thematisieren, was auch diesem Gedicht zugrunde liegt.

Auf den ersten Blick ist dieses Gedicht eine düstere, fast gespenstische Szene, die von der Ruine einer alten Festung handelt. Es enthält Elemente der Romantik und des Mittelalters, die in den beschriebenen Kulissen und in der Erzählung von den Rittern und der Jungfrau zum Vorschein kommen.

Im Inhalt erzählt das lyrische Ich zunächst von der düsteren, aber majestätischen Landschaft und der alten Feste, die es besucht. Dann begegnet es der Geisterfigur von Fräulein Kunigunde. Ihre Geschichte ist die zentrale Erzählung des Gedichts: Sie war eine stolze, freie Frau, die es ablehnte, ohne Liebe zu heiraten und Männer im Turnier um ihre Hand kämpfen ließ. Sie fand schließlich Liebe, wurde aber verraten und endete tragisch, verflucht, um bei Nacht zu wandern und die Verletzungen ihrer Vergangenheit zu beklagen.

Das Gedicht hat eine feste Struktur, bestehend aus acht Strophen mit jeweils acht Versen. Die Betonungen liegen regelmäßig, es herrscht ein gleichmäßiger Rhythmus. Die Sprache ist eher formell und elementar mit einem starken Fokus auf Bildern und Metaphern, um die Szene lebendig und eindringlich zu gestalten.

Die tiefergehende Bedeutung und Botschaft des Gedichts ist feministisch geprägt. Es kann als parabolische Kritik an der patriarchalischen Gesellschaft und der Unterdrückung der Frauen gelesen werden. Es zeigt die dramatischen Folgen der gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen und ihr Liebesleben auf und klagt die Doppelmoral und Ungerechtigkeit an. Kunigundes Geschichte ist nicht nur eine tragische Liebesgeschichte, sondern auch eine Geschichte von Stolz, Selbstbestimmtheit und letztlich Verrat und Misshandlung durch die Gesellschaft. Louise Otto-Peters setzt hier ein starkes Zeichen für das Frauenrecht und die Gleichberechtigung der Geschlechter.

Weitere Informationen

Die Autorin des Gedichtes „Auf dem Kynast“ ist Louise Otto-Peters. Im Jahr 1819 wurde Otto-Peters in Meißen geboren. Im Jahr 1850 ist das Gedicht entstanden. Erschienen ist der Text in Leipzig. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Realismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten der Autorin vorgenommen werden. Die Zuordnung der Epoche ist ausschließlich auf zeitlicher Basis geschehen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben bei Verwendung. Das Gedicht besteht aus 64 Versen mit insgesamt 8 Strophen und umfasst dabei 483 Worte. Weitere Werke der Dichterin Louise Otto-Peters sind „An Ludwig Börne“, „An Richard Wagner“ und „Bergbau“. Auf abi-pur.de liegen zur Autorin des Gedichtes „Auf dem Kynast“ weitere 106 Gedichte vor.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Weitere Gedichte des Autors Louise Otto-Peters (Infos zum Autor)

Zum Autor Louise Otto-Peters sind auf abi-pur.de 106 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.