Am längsten Tage von Louise Otto-Peters

Dem Siegesfeuer gleich auf Bergesspitzen,
Das aufwärts flammt bis in des Himmels Blau,
So sieht man heut aus höchster Höhe blitzen
Der Sonne Aug’, der königlichen Frau,
So steht sie da auf ihrem höchsten Throne
Und sendet allen Landen ihren Gruß.
Ihr gold’nes Scepter neigt sie rings zum Lohne
Und selbst ihr Lächeln ist ein Flammenkuß.
 
Wohl mag sie sich an ihrem Werke freuen,
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Denn lauter Segen war auf ihrer Bahn,
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Ihr Herrschen war ein gütig Gabenstreuen
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Und alles Heil ließ sie ihr Land empfahn.
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Doch ist es nun mit ihrer Macht zu Ende?
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Sie muß! es ist ein ewiges Gebot –
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Ihr Antlitz drückt sie in die Wolkenhände
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Und weint im Tau, und glüht im Abendrot.
 
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Sie flieht zurück – noch spendet sie uns Segen,
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Fortwirkend zeugt das Gute Gutes nur,
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Noch eine Weile bleibt ein fröhlich Regen,
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Noch eine Weile grünt und blüht die Flur,
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Noch eine Weile – dann ist’s doch zu Ende,
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Dann ist ein Sonnengruß ein Augenblick’,
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Dann fällt die Erde in des Eises Hände,
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Und schläft und träumt nur von dem einst’gen Glück
 
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Schon jetzt! Die Vögel haben ausgesungen
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Und sitzen stumm bei ihrer jungen Brut;
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Das Lied der Nachtigall ist längst verklungen,
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Die Grille nur zirpt in des Mittags Glut,
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Verstummt ist in der Saat der Wachtel Schlagen,
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Bald, ahnt sie, rauscht die Sense zu ihr her;
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Es will kein Baum mehr heitre Blüten tragen,
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Er neigt sich ernst herab von Früchten schwer.
 
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Ach, einen längsten Tag hat auch das Leben –
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Ein jegliches für jedes Menschenherz,
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Auch seine Sonne wird sich einst erheben
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Zur Scheitelhöh’ und zieht dann heimatwärts.
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Noch kann ich mutig mit der Lerche singen,
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Noch lebt ein Liederlenz in meiner Brust,
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Noch kann ich Blüten mir zum Kranze schlingen,
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Noch bin ich meiner Lenzkraft mir bewußt.
 
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Und kommt der längste Tag des Herzens Schlagen
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Und ist dahin der Jugend heitre Spur:
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Noch eine Weile bleibt ein fröhlich Tagen,
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Noch eine Weile grünt und blüht die Flur.
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Noch eine Weile, dann ist’s doch zu Ende,
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Dann ist ein Sonnengruß ein Augenblick,
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Das Menschenherz sinkt in des Eises Hände
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Und schläft – und träumt kaum von dem einst’gen Glück.
 
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Nein! nimmer mag ich diesen Tag erleben,
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Nur keinen Winter für das Menschenherz,
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Statt Blüten will ich wohl Euch Früchte geben,
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Statt Lerchenlust und Nachtigallenschmerz
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Ein ernstes Wirken in dem Dienst der Zeiten,
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Das reif geworden in des Sommers Glut –
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Mit Thaten will ich statt mit Liedern streiten,
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Doch nie gefriere der Begeistrung Flut.
 
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O möchte dann mein Los dem Weinstock gleichen:
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Er weinet wonnereich am Frühlingstag,
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Dann läßt er blühend süße Düfte steigen,
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Hängt seine Kränze auf an Säul’ und Hag,
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Da werden Perlen seine Frühlingszähren
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Und seine Blüten Purpurglanz und Gold,
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Das glänzt und schwillt Begeistrung zu gewähren,
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Wenn in den Kelch das Blut der Traube rollt.
 
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Den Weinstock aber ohne Frucht und Ranken
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Begräbt man in der Erde Mutterschoß,
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Nicht in den kalten Stürmen soll er schwanken,
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Soll schlafen, träumen winterahnungslos,
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Laß mich, o Gott, ein gleiches Los erringen,
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Laß aus den Thränen mir von Lust und Leid,
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Aus meinen Kränzen, meinen Liedersingen
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Begeistrung strömen in die künft’ge Zeit!
 
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So laß mich meinem Volk zum Segen leben,
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So zeige einst mir eine große That –
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Wo nicht, so laß mich noch ein Lied erheben,
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Das fördern soll auch eine künft’ge Saat.
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Laß mich, o Gott, des Weinstock’s Los erwerben,
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Der mit Begeist’rung alles Volk erfüllt –
79 
Doch in derselben Stunde laß mich sterben,
80 
Von milder Erde, nicht von Schnee verhüllt.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30.8 KB)

Details zum Gedicht „Am längsten Tage“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
80
Anzahl Wörter
583
Entstehungsjahr
1840-1850
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Dieses beeindruckende und kraftvolle Werk wurde von der deutschen Schriftstellerin und Frauenrechtsaktivistin Louise Otto-Peters verfasst. Sie wurde am 26. März 1819 geboren und starb am 13. März 1895, daher lässt sich das Gedicht in die Epoche des Spätbiedermeier und des Realismus einordnen. Bei der ersten Betrachtung wird die emotionale Intensität und lebendige Metaphorik des Gedichtes deutlich.

„Am längsten Tage“ beginnt mit einer Beschreibung der Sonne, welche auf ihrem höchsten Punkt steht und dem Land ihren goldfarbenen Gruß sendet. Es handelt sich hierbei um eine Metapher, die die Vitalität des Lebens in dessen Hochphase darstellt. Doch mit der Zeit verliert die Sonne ihre Kraft und versinkt, eine Anspielung auf den unausweichlichen Verfall und das Ende, das jede Existenz trifft. Trotz des bevorstehenden Endes, besteht noch immer ein Gefühl der Schönheit und des Segens.

Im Gedicht wird das lyrische Ich zunächst als harmonischer Teil der Natur dargestellt, der sich seines Strebens und seiner Lenzkraft bewusst ist. Allerdings wird das Bewusstsein über den bevorstehenden „längsten Tag“, ein Metapher für das Ende der Jugend und den Beginn von Alter und Verfall, ausgedrückt.

In der weiteren Folge wird das lyrische Ich zunehmend kämpferischer und spricht den Wunsch aus, ebenso wie ein Weinstock, niemals sein Feuer zu verlieren und bis zum Ende aktiv und fruchtbar zu bleiben. Es betont sowohl das Leiden als auch das Streben nach Begeisterung und einer Zukunft, in der dies weiterbestehen kann.

Das Gedicht ist in einem strukturierten, rhythmischen Reim gehalten und besteht aus vierhebigen Jamben, was dem Werk eine starke Form und einen fließenden Rhythmus gibt. Die bildreiche Sprache und der häufige Gebrauch von Metaphorik intensivieren den Emotionengehalt und die symbolische Wirkung. Weitere rhetorische Mittel wie Personifikationen, Vergleiche und Wiederholungen tragen dazu bei, die Hauptthemen des Gedichtes - Vergänglichkeit und die Darstellung des Lebens als Zyklus - zu unterstreichen.

Weitere Informationen

Die Autorin des Gedichtes „Am längsten Tage“ ist Louise Otto-Peters. Die Autorin Louise Otto-Peters wurde 1819 in Meißen geboren. Im Jahr 1850 ist das Gedicht entstanden. Erscheinungsort des Textes ist Leipzig. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten der Autorin kann der Text der Epoche Realismus zugeordnet werden. Bei Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit der Zuordnung. Die Auswahl der Epoche ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und muss daher nicht unbedingt richtig sein. Das 583 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 80 Versen mit insgesamt 10 Strophen. Die Gedichte „Allein“, „Am Schluß des Jahres 1849“ und „An Alfred Meißner“ sind weitere Werke der Autorin Louise Otto-Peters. Auf abi-pur.de liegen zur Autorin des Gedichtes „Am längsten Tage“ weitere 106 Gedichte vor.

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