Die kleinen Alten von Charles Baudelaire
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In alten städten in winkliger viertel nähe |
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Wo alles · sogar das entsetzen · in zauber sich kehrt |
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Gehorch ich meinen verderblichen launen und spähe |
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Nach wesen seltsam bestrickend · schwach und verzehrt. |
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Einst waren es frauen · die zerrbilder aufgerieben · |
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Epona und Laïs! zerrbilder verschlissen krumm |
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Verschrumpft – es sind noch seelen · wir müssen sie lieben! |
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In ihren durchlöcherten kleidern kommen sie stumm |
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Die strasse einher von den boshaften winden geschlagen |
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Im rollenden lärme der wagen zitternd geknickt |
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Und wie ein heiliges überbleibsel tragen |
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Sie bei sich ein säckchen mit blumen und schnörkeln bestickt. |
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Sie trippeln ähnlich wie die Polichinellen · |
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Sie schleppen sich wie verwundete tiere fort |
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Und ohne zu wollen tanzen sie – arme schellen |
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Daran sich ständig ein dämon hängt! so verdorrt |
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Sie auch sind: ihre stechenden augen bestricken |
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Und glitzern wie ruhende wasserhöhlen bei nacht |
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Und sind wie die eines mädchens mit göttlichen blicken |
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Das alles bestaunt und zu allem erglänzenden lacht. |
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– Habt ihr bemerkt: manche särge der alten waren |
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Wie die eines kindes – beinah ebenso klein? |
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Der weise tod legt in diese gleichheit der bahren |
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Ein sinnbild von seltsam ergreifender laune hinein. |
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Und seh ich an mir vorüber eins von den matten |
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Gespenstern durch das wimmelnde treiben fliehn |
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So scheint es mir immer dass diese gebrechlichen schatten |
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Ganz leis einer neuen wiege entgegenziehn. |
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Ich denke dann über die messkunst nach und ich zähle |
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Vom anblick dieser verschrobenen glieder erfasst |
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Wie oft der handwerker andere formen wol wähle |
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Damit die kiste für jeden der körper passt. – |
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Und brunnen sind ihre augen · tief unabsehlich · |
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Sind tiegel beschlagen mit einem erkalteten erz · |
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Und voll von geheimnissen fesseln sie unwiderstehlich |
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Den der erzogen wurde vom grausamen schmerz · |
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Des alten Frascati liebende priesterinnen · |
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Thaliens töchter deren allein noch im sarg |
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Der flüsterer denkt · und berühmte verschwenderinnen |
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Die Tivoli ehmals in seinen blumen barg: |
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Sie alle berauschen mich · unter den zarten gestalten |
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Sind aber auch solche die machten zum honig den schmerz: |
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Sie sagten zum opfermut: willst du uns aufrecht halten? |
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Mächtiges flügelross · flieh mit uns himmelwärts! |
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Die eine im leiden geübt durch die heimatsonne |
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Die andre die ihres gatten qualen ertrug |
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Die dritte des kindes willen durchbohrte madonne – |
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Sie hätten um ströme zu bilden der thränen genug. |
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Wie manchen bin ich gefolgt von den kleinen alten! |
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Von ihnen eine · zur zeit als die sonne sank |
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Und sich der himmel hüllte in blutige falten – |
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Gedankenvoll sass sie abseits auf einer bank |
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Dem klang der soldatenmärsche zu folgen der bebend |
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Von pauken zuweilen durch unsere gärten gellt |
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Und der · an abenden golden und wiederbelebend · |
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Mit heldenmut etwas die herzen der bürger schwellt. |
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Sie also (noch kräftig sich fühlend trotz ihrer jahre) |
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Sog gierig ein die lebhaften kampf-melodien. |
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Mit ihrem auge glich sie dem alten aare · |
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Ihr marmornes haupt für den lorbeer geschaffen schien. |
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So ziehet ihr klaglos dahin mit stoïschen stirnen |
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Inmitten unserer lebenden städte schlund · |
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Ihr mütter mit blutendem herzen ihr frommen ihr dirnen |
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Ihr deren name vor zeiten in aller mund. |
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Euch die man die pracht genannt und die schönheit der erde |
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Euch kennt nun keiner. ein betrunkener schlüpft |
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An euch vorüber mit höhnischer liebesgeberde · |
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Ein boshafter knabe hinter den fersen euch hüpft. |
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Geduckten ganges euch schämend mit furchtsamem blicke · |
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Verschrumpfte gestalten die ihr an die mauern streift · |
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Euch achtet keiner · seltsame geschicke · |
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Ihr trümmer von menschen die ihr für die ewigkeit reift! |
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Ich aber schaue auf euch von fernem · nicht minder |
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Besorgt und auf euren schwankenden schritt – |
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Wie wundersam! als wäret ihr all meine kinder · |
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Ich fühle · euch unbekannt · heimliche freuden mit. |
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Ich sehe wie eure jungfräulichen triebe sich künden · |
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Ich sehe die frohzeit und das verlorene glück. |
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Mein herz wie vervielfacht ergeht sich in all euren sünden |
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Und all eure tugenden strahlt meine seele zurück. |
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Ihr trümmer! ihr schwestern! mir verwandte schaaren! |
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Ich nehme feierlich abschied von euch jeden tag. |
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Wo seid ihr morgen · ihr Even von hundert jahren |
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Auf denen Gottes entsetzlicher finger lag? |
Details zum Gedicht „Die kleinen Alten“
Charles Baudelaire
24
87
641
nach 1837
Biedermeier,
Junges Deutschland & Vormärz,
Realismus
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „Die kleinen Alten“ wurde von Charles Baudelaire verfasst, einem französischen Dichter des 19. Jahrhunderts bekannt für seine schockierenden und provokativen Werke. Baudelaire ist eine Schlüsselfigur in der literarischen Welt und ist bekannt für seine scharfe Beobachtungsgabe und seinen zynischen Humor.
Der erste Eindruck des Gedichts ist einer von Respekt und Ehrfurcht vor dem Alter und den Beiträgen, die diese 'kleinen Alten' zur Gesellschaft geleistet haben. Das lyrische Ich scheint eine tiefe Bewunderung und Empathie für diese älteren Menschen zu haben. Gleichzeitig ist ein Hauch von Melancholie und Traurigkeit zu spüren, da das lyrische Ich die Vergänglichkeit des Lebens und den unausweichlichen Tod betont.
Inhaltlich beschreibt das Gedicht die soziale und physische Realität des Alterns in einer Stadt. Das lyrische Ich reflektiert über die Rolle dieser älteren Personen, die einst vital und bedeutend waren, aber nun schwach und oft übersehen bleiben. Das Gedicht deutet an, dass trotz ihres Alters und ihrer körperlichen Zerbrechlichkeit, diese Personen immer noch Seelen sind, die Zuneigung und Achtung verdienen.
Formal betrachtet besteht das Gedicht aus freien Versen, die eine komplexe Struktur und einen anspruchsvollen Ausdruck haben. Jede Strophe hat eine einzigartige Verszahl, was eine gewisse Dynamik und Fluss im Gedicht schafft. Die Sprache ist komplex und hat eine poetische Qualität, die Bilder von Schönheit, Verfall und Endlichkeit hervorruft. Baudelaire nutzt Metaphern und Vergleiche, um den Zustand der 'kleinen Alten' zu skizzieren und ihren Zustand zu kommentieren.
Zusammenfassend kann man sagen, dass „Die kleinen Alten“ ein tiefsinniges und berührendes Gedicht ist, das einen Einblick in die menschliche Erfahrung des Alterns und der Vergänglichkeit gibt. Baudelaire schafft es, Empathie und Respekt für diese oft übersehenen Mitglieder der Gesellschaft zu wecken und gleichzeitig ein starkes philosophisches Statement über Leben und Tod abzugeben.
Weitere Informationen
Charles Baudelaire ist der Autor des Gedichtes „Die kleinen Alten“. Geboren wurde Baudelaire im Jahr 1821 in Paris. Zwischen den Jahren 1837 und 1867 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Berlin. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz oder Realismus zuordnen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben zur Epoche bei Verwendung. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Das 641 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 87 Versen mit insgesamt 24 Strophen. Die Gedichte „Aufschrift auf ein verpöntes Buch“, „Aufschwung“ und „Begräbnis“ sind weitere Werke des Autors Charles Baudelaire. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Die kleinen Alten“ weitere 101 Gedichte vor.
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