Die Wahl des Liebsten von Luise Hensel

Es warten dein zwei Freier;
Schau her und wähle, Kind!
Nimm, den dein Herz getreuer
Und schöner, reicher find't.
 
Der Erste ist ein König,
Ein Fürst von dieser Welt.
»Er bietet mir zu wenig,
Nur eitel Pracht und Geld.«
 
Der Andre hat dort drüben
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Sein ewig Königreich.
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»Ja, diesen will ich lieben
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Und mit ihm ziehen gleich.«
 
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Der Erste will dir schenken
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Viel Ehre, Schmuck und Reiz;
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Noch kannst du dich bedenken:
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Der Andre trägt ein Kreuz.
 
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»Den Ersten laß ich stehen,
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Er sucht und liebt nur sich;
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Ich will zum Andern gehen,
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Er trägt das Kreuz um mich.«
 
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Halt! sieh erst noch die Krone,
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Die dir der Erste reicht;
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Dann sieh, was dir zum Lohne
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Der Andre giebt vielleicht.
 
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»Die Krone seh' ich prangen,
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Doch ist es Feuerglanz.«
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Der Andre kommt gegangen
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Mit einem Dornenkranz.
 
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»Zum Kranz die Hand ich neige,
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Er soll mein Haupt umziehn:
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Ich seh' aus jedem Zweige
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Die schönste Ros' erblühn.«
 
33 
Noch sieh, was in den Kelchen,
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Die lockend vor dir stehn,
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Und sage mir dann, welchen
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Du dir hast ausersehn.
 
37 
»Hier funkeln bunte Lügen,
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Trüb schäumt der Lüste Fluth;
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Im andern ruht verschwiegen
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Das allerhöchste Gut.
 
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Der erste mag wohl blinken,
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Mir ist er nicht gesund;
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Den andern will ich trinken
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Bis auf den tiefsten Grund.«
 
45 
Zuvor schau auf die Wege,
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Noch winket dir das Glück;
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Bedenke, überlege:
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Du kannst nicht mehr zurück.
 
49 
Der erste breit und linde,
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Der andre rauh und steil.
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»Ade denn, Welt, geschwinde!
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Nun hab' ich freilich Eil'.«
 
53 
»Ich seh' am Kreuz Ihn hangen,
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Er streckt die Arme Sein;
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Ich eil', Ihn zu umfangen,
56 
Mit Schmerzen harrt Er mein.
 
57 
Willkomm, mühselig Ringen!
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Du Pfad, so steil und schmal,
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Willst du zu Ihm mich bringen,
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Dann Amen! Tausend Mal!«
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.8 KB)

Details zum Gedicht „Die Wahl des Liebsten“

Autor
Luise Hensel
Anzahl Strophen
15
Anzahl Verse
60
Anzahl Wörter
288
Entstehungsjahr
1816
Epoche
Klassik,
Romantik,
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die Wahl des Liebsten“ wurde von der deutschen Dichterin Luise Hensel (1798 - 1876) verfasst. Es ist in die Epoche des Biedermeier einzuordnen, die vor allem durch eine Rückbesinnung auf religiöse und familiäre Werte charakterisiert ist.

Beim ersten Lesen vermittelt das Gedicht den Eindruck einer Wahl zwischen zwei Männern, wobei sich das lyrische Ich für denjenigen entscheidet, der zwar weniger materielle Güter zu bieten hat, dafür aber aufrichtige Liebe repräsentiert.

Inhaltsweise geht es in dem Gedicht tatsächlich um eine Entscheidungsfindung, genauer gesagt um die Wahl zwischen weltlichen und spirituellen Werten. Es werden zwei Freier vorgestellt, einen König, der für weltliche Macht, Reichtum und Pracht steht, und einen anderen, der ein ewiges Königreich jenseits der materiellen Welt besitzt. Das lyrische Ich zieht den zweiten vor, trotz der Tatsache, dass er ein Kreuz trägt, was ein Symbol für Leiden und Opfer ist. Dieser Freier wird im weiteren Verlauf des Gedichts als Christus identifiziert.

Auf der formalen Ebene besteht das Gedicht aus fünfzehn gleich strukturierten Vierzeilern. Die Sprache ist klar und direkt, verwendet jedoch viel Symbolik, um die Kontraste zwischen den beiden Freiern zu verdeutlichen. So steht der Dornenkranz beispielsweise für die Dornenkrone, die Jesus bei seiner Kreuzigung trug, während die „bunten Lügen“ und die „trübe Flut der Lüste“ das trügerische Angebot des ersten Freiers repräsentieren.

Insgesamt arbeitet Hensel hier mit biblischer Symbolik und Metaphorik, um eine tiefere Botschaft zu vermitteln: Die Entscheidung für ein Leben im Sinne des Evangeliums – mit all seinen Herausforderungen und Schwierigkeiten – wird als wahrer Weg zum „allerhöchsten Gut“ dargestellt und einer weltlichen Existenz voller Pracht und Reichtum gegenübergestellt, die jedoch letztlich leer und ohne wirklichen Wert ist. Dies entspricht auch Hensels eigener Lebenshaltung als tiefreligiöser Mensch und Ordensschwester.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Die Wahl des Liebsten“ der Autorin Luise Hensel. Geboren wurde Hensel im Jahr 1798 in Linum. 1816 ist das Gedicht entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten der Autorin lassen eine Zuordnung zu den Epochen Klassik, Romantik oder Biedermeier zu. Die Angaben zur Epoche prüfe bitte vor Verwendung auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich die Literaturepochen zeitlich teilweise überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung fehleranfällig. Das 288 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 60 Versen mit insgesamt 15 Strophen. Luise Hensel ist auch die Autorin für das Gedicht „Nach Ihm nur einzig streben“, „Süßer Jesus, kehre wieder“ und „Soll mir Jesus liebevoll sich zeigen“. Zur Autorin des Gedichtes „Die Wahl des Liebsten“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 255 Gedichte vor.

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