Romanze von Luise Hensel

Es weidet dort im grünen Thal
Ein Hirt von hoher Art.
Die Schäflein, die er weidet, all'
Sind weiß und fromm und zart.
 
Jüngst that nach einem irren Lamm
Er ängstlich suchen gehn
Und stieg auf hohen Baumes Stamm,
Sich weit herum zu sehn.
 
Er ist dem Lämmlein gar so gut,
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Drum ruft und klagt er laut;
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Denn - ach! - er kennt des Wolfes Wuth,
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Der gierig längst geschaut.
 
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»Und kommst du nicht, geliebtes Lamm,
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Und fühlst nicht meine Noth,
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So steig' ich nicht von diesem Stamm
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Und härme mich zu Tod.«
 
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Dann bricht er Rosen von dem Baum
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Und wirft sie, krank und matt,
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Hernieder auf den grünen Raum,
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Dem Lamm zur Lagerstatt:
 
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»Und bin ich nun im Tode bleich,
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Und kommt mein Lämmlein spät,
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So ruht es doch auf Rosen weich,
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Die meine Hand gesä't.
 
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Ich habe dich so treu geliebt,
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So milde führt' ich dich;
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Du hast mich in den Tod betrübt:
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Die Liebe tödtet mich.
 
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Fahr' wohl, du undankbares Lamm!
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Fahr' wohl, du treulos Herz!
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Und kommst du einst zu diesem Stamm,
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So denk' an meinen Schmerz.«
 
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Nun brach so trüb und lebenssatt
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Des treusten Hirten Blick;
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Da kam aus ferner Wüste matt
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Das irre Lamm zurück.
 
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Und als es seinen Hirten sah,
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Bereut' es seine Flucht,
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Und nimmer hat es fern noch nah
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Mehr Weid' und Trank gesucht.
 
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Es nährt sich von des Baumes Laub,
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Daran sein Hirt erblich;
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Es wählt gewelkter Rosen Staub
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Zum sanften Lager sich.
 
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Es scheut nicht Dorn, nicht Stein noch Kluft,
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Nicht Gluth noch rauhes Wehn,
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Bis einst der Hirt zur Weide ruft,
48 
Wo treue Lämmlein gehn.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.1 KB)

Details zum Gedicht „Romanze“

Autor
Luise Hensel
Anzahl Strophen
12
Anzahl Verse
48
Anzahl Wörter
268
Entstehungsjahr
1798 - 1876
Epoche
Klassik,
Romantik,
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Dieses Gedicht wurde von Luise Hensel, einer deutschen Dichterin, verfasst, die von 1798 bis 1876 lebte. Sie gehört damit in die Zeit der deutschen Romantik, was möglicherweise auch den Titel „Romanze“ erklärt.

Bei erstem Lesen weckt das Gedicht einen Eindruck von Tiefgründigkeit und Ahndung. Die Szene eines Hirten, der nach seinem entlaufenen Lamm sucht, ist von einer rührenden Hingabe geprägt, die in berührenden und intensiven Bildern dargestellt wird.

Das lyrische Ich, der Hirt, zeichnet ein Bild von seiner Fürsorge und Zuneigung für seine Schafe, insbesondere für das entlaufene Lamm. Er sorgt sich um sein Lamm und geht bis an seine eigenen Grenzen, um es zu retten. Symbolisch steht das Lamm vielleicht für einen geliebten Menschen, der sich verirrt hat und Beistand benötigt, es könnte aber auch ein Teil des Hirten selbst repräsentieren - eine Kindheit, Unschuld oder einen anderen Aspekt, der verloren gegangen ist und zurückgewünscht wird.

Das Gedicht gliedert sich passend zu seiner symmetrischen Form in 12 vierzeilige Strophen ein. Die Verse haben einen strengen, aber regelmäßigen Rhythmus, was zur dramatischen und ernsten Stimmung des Gedichts beiträgt. Das Gedicht spricht eine eher formelle, poetische Sprache, mit Metaphern, einem intensiven Bezug zur Natur und gewichtigen, gefühlsbetonten Aussagen.

Die wiederkehrenden Themen und Bilder – das Lamm, die Rosen, die verzweifelte Suche nach dem Verlorenen bis hin zur Selbstzerstörung – erzeugen eine Atmosphäre von Flehen, Hoffnung und Resignation.

Besonders hervorzuheben ist die letzte Strophe: Als das Lamm, nachdem es seinen Fehler erkannt hat, endlich zurückkehrt, ist der Hirt bereits gestorben. Diese tragische Auflösung deutet auf eine pessimistische Sicht auf das Leben und die Liebe hin, wo Loyalität und Hingabe nicht immer mit Erfolg belohnt werden.

Zusammengenommen ist das Gedicht von Luise Hensel eine tiefgreifende und emotionale Erzählung von Liebe, Verlust und der Schwere von Vergebung und Reue. Es ist ein anschauliches und rührendes Porträt von der tragischen menschlichen Erfahrung, geliebt zu haben und zu verlieren.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Romanze“ stammt aus der Feder der Autorin bzw. Lyrikerin Luise Hensel. 1798 wurde Hensel in Linum geboren. In der Zeit von 1814 bis 1876 ist das Gedicht entstanden. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten der Autorin kann der Text den Epochen Klassik, Romantik, Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz oder Realismus zugeordnet werden. Die Richtigkeit der Epochen sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das vorliegende Gedicht umfasst 268 Wörter. Es baut sich aus 12 Strophen auf und besteht aus 48 Versen. Die Dichterin Luise Hensel ist auch die Autorin für Gedichte wie „Schau himmelan, schau himmelan“, „Und Gottes Friede sei mit dir“ und „Wohl gleicht das Leben einem Kranz“. Auf abi-pur.de liegen zur Autorin des Gedichtes „Romanze“ weitere 255 Gedichte vor.

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