Anne-Marie von Luise Hensel

Sie zog mit kleiner Habe
Zum reichen Bauern hin,
Doch manche schöne Gabe
Hat ihr Natur verliehn.
 
Des Hofes jungem Erben
Lacht sie in's Herz hinein;
Und lieber will er sterben,
Als eine And're frei'n.
 
Der harte Vater schmähet
10 
Und treibt die Magd hinaus;
11 
Wie auch der Jüngling flehet,
12 
Die Maid verläßt das Haus.
 
13 
Sie dient im Nachbarhause
14 
Um kärglichen Gewinn,
15 
Und Nachts aus armer Klause
16 
Schaut sie zum Hofe hin.
 
17 
Der breitet weit und düster
18 
Vor ihrem Blick sich aus.
19 
Der Birnbaum und die Rüster
20 
Verdecken schier das Haus.
 
21 
Und wenn ein trübes Leuchten
22 
Sich durch die Zweige bricht,
23 
Dann reiche Thränen feuchten
24 
Das stille Angesicht.
 
25 
Im Herzen nagt der Jammer,
26 
Zernagt des Lebens Kern.
27 
Bald trägt zur armen Kammer
28 
Der Priester Gott, den Herrn.
 
29 
Als Braut des Bauernsohnes
30 
Verschmäht, du arme Maid,
31 
Bist werth du nun des Thrones
32 
Der höchsten Herrlichkeit.
 
33 
Er, aller Himmel König,
34 
Hat dich zur Braut erwählt;
35 
Ihm bist du nicht zu wenig,
36 
Er hat sich dir vermählt.
 
37 
O, lache nun der Thränen,
38 
Die thöricht du geweint,
39 
Als noch dein krankes Sehnen
40 
Den Erdensohn gemeint.
 
41 
O, schlage hoch die Schwingen,
42 
Die mild der Tod befreit:
43 
Du sollst nun aufwärts dringen
44 
Zum Thron, der dir bereit.
 
45 
Die Glocken festlich läuten,
46 
Die Jungfrau'nkerze scheint,
47 
Geschmückt die Träger schreiten,
48 
Und manches Auge weint.
 
49 
Die Priester milde beten
50 
Und gehn dem Zug voran,
51 
Und die Gespielen treten
52 
Im Feierkleid heran.
 
53 
Es schwankt vor seiner Thüre
54 
Die Bahre hoch empor
55 
Ob dort wohl Einer spüre,
56 
Daß er ein Herz verlor?
 
57 
Und ist mir anders auch das Loos gefallen,
58 
Und hab' ich deine Thränen nie geweint,
59 
Doch will ich treu mit deinem Zuge wallen,
60 
Den armen Deinen gern dabei geeint.
 
61 
Und wenn der Priester zum Altar getreten,
62 
Das heil'ge Sühnungsopfer Gott zu weihn,
63 
Will ich mein de profundis fromm dir beten,
64 
Daß froh du eingehst zu der Sel'gen Reih'n.
 
65 
O bet' auch, Schwester, du mit sel'gem Munde,
66 
Daß treu ich wandle, wie die Kirche lehrt,
67 
Und daß mir gnadenvoll in letzter Stunde
68 
Der Herr im Sacramente sich bescheert. Amen.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.3 KB)

Details zum Gedicht „Anne-Marie“

Autor
Luise Hensel
Anzahl Strophen
17
Anzahl Verse
68
Anzahl Wörter
338
Entstehungsjahr
1798 - 1876
Epoche
Klassik,
Romantik,
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Anne-Marie“ wurde von Luise Hensel verfasst, eine deutsche Dichterin und Pädagogin des 19. Jahrhunderts, die während der literarischen Romantik schrieb.

„Anne-Marie“ erzählt die traurige, herzzerreißende Geschichte einer jungen Frau. Sie kommt als Dienstmagd zu einem reichen Bauern, wo sie sich in den Sohn des Hauses verliebt und seine Liebe offensichtlich auch erwidert. Die schroffe Natur des Vaters aber verbietet diese Liebe, und so wird Anne-Marie fortgeschickt. Sie muss nun in einem Nachbarhaus dienen und sehnt sich jeden Abend nach dem Bauernhof, den sie nur teilweise durch die Bäume hindurch sehen kann. Ihr Schmerz und ihre Einsamkeit führen letztendlich zu ihrem Tod.

Hensel verarbeitet in diesem Gedicht, das im Stil des Biedermeiers geschrieben wurde, Themen wie Liebe, Unglück, Klassenschranken und Glauben. Sie verwendet einfache, klare Sprache, um die melancholische Handlung zu beschreiben und dem Leser näherzubringen. Trotz der Einfachheit und Klarheit der Sprache sind die Gefühle von Anne-Marie und die bedrückende Atmosphäre spürbar und sich im Laufe des Gedichts immer mehr aufbauend.

Die Struktur des Gedichts ist sehr gleichförmig: Es besteht aus 17 Strophen mit jeweils vier Versen – ein Aufbau, der eine kontinuierliche, fast schon gleichmäßige Erzählung ermöglicht. Die Konzentration der lyrischen Exposition ermöglicht einen reichen Informationsfluss. Obwohl das Ende tragisch ist, findet Anne-Marie Trost und Erhebung in ihrem Glauben. Dieser religiöse Aspekt gravitiert den vermeintlichen Wert des Lebens jenseits des weltlichen Daseins und hebt die Unabdingbarkeit des Glaubens besonders hervor.

Luise Hensel Dichtungen sind geprägt von einem starken religiösen Glauben, und sie stellt Anne-Marie in einen höheren, himmlischen Kontext, indem sie ihren Tod als Übergang zu einer höheren Daseinsebene darstellt, einer Ebene, in der Anne-Marie „als Braut des Himmels“ den rechtmäßigen Platz erhält, der ihr auf Erden verwehrt wurde. Letztendlich hinterlässt das Gedicht beim Leser einen bitter-süßen Nachgeschmack, eine Melange aus Trauer um da verlorene Leben, und Hoffnung auf das, was noch kommen mag, zeitgleich gebunden an dem Glauben an die Macht der Liebe und die Gnade Gottes.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Anne-Marie“ der Autorin Luise Hensel. Geboren wurde Hensel im Jahr 1798 in Linum. In der Zeit von 1814 bis 1876 ist das Gedicht entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten der Autorin her lässt sich das Gedicht den Epochen Klassik, Romantik, Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz oder Realismus zuordnen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben zur Epoche bei Verwendung. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Das 338 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 68 Versen mit insgesamt 17 Strophen. Weitere Werke der Dichterin Luise Hensel sind „Soll mir Jesus liebevoll sich zeigen“, „Gruß an Maria“ und „O nimm die kleine Gabe gern“. Auf abi-pur.de liegen zur Autorin des Gedichtes „Anne-Marie“ weitere 255 Gedichte vor.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Weitere Gedichte des Autors Luise Hensel (Infos zum Autor)

Zum Autor Luise Hensel sind auf abi-pur.de 255 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.