Der Nachtschwärmer von Gottfried Keller

Von heißer Lebenslust entglüht
hab ich das Sommerland durchstreift,
darüber ist der Tag verblüht
und zu der schönsten Nacht gereift.
Ich steige auf des Berges Rücken
zur Kanzel von Granit empor
und beuge mich mit trunknen Blicken
in die entschlafne Landschaft vor.
 
Am andern Berge drüben steht
10 
im Sternenschein der Liebe Haus,
11 
aus seinem offnen Fenster weht
12 
ein Vorhang in die Nacht hinaus;
13 
das ist fürwahr ein luftig Gitter,
14 
das mir das Fräulein dort verschließt,
15 
nur schade, daß mir armen Ritter
16 
der tiefe Strom dazwischen fließt!
 
17 
So will ich ihr ein Ständchen bringen,
18 
das weithin durch die Lüfte schallt,
19 
und spiele Du zu meinem Singen,
20 
o Geist der Nacht, auf Tal und Wald!
21 
Den Wind laß mit den Tannen kosen,
22 
die wie gespannte Saiten stehn,
23 
und mit der Wellen fernem Tosen
24 
der Nachtigallen Chor verwehn!
 
25 
Im Osten zieht ein Wetter hin,
26 
das stellen wir als Helfer an,
27 
wie leuchtend schwingt sein Tamburin
28 
am Horizonte der Titan!
29 
Die Mühlen sind die Zitherschläger
30 
beim Wassersturz im Felsengrund;
31 
im Wagen fährt mein Fackelträger
32 
hoch vor mir her am Himmelsrund!
 
33 
Nun will ich singen überlaut
34 
vor allem Land, das grünt und blüht;
35 
es ist kein Turm so hoch gebaut,
36 
darüberhin mein Sang nicht zieht!
37 
So, eine kühne Brücke schlagend,
38 
such ich zu ihrem Ohr den Weg.
39 
Betritt im Traum das Seelchen zagend
40 
des wilden Lärmers schwanken Steg?
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.7 KB)

Details zum Gedicht „Der Nachtschwärmer“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
40
Anzahl Wörter
223
Entstehungsjahr
1819 - 1890
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der Nachtschwärmer“ wurde von Gottfried Keller geschrieben, einem schweizerischen Dichter und Schriftsteller der Neuromantik. Er lebte im 19. Jahrhundert, genauer gesagt von 1819 bis 1890.

Beim ersten Lesen wirkt das Gedicht sehr bildhaft und atmosphärisch. Es scheint, dass der Dichter versucht, eine nächtliche Szene zu beschreiben, indem er die Landschaft, die Sterne und die Nacht als romantische Kulisse nutzt.

Keller erzählt von der Reise des lyrischen Ichs durch eine nächtliche Landschaft, um einer unbekannten Dame ein Ständchen zu bringen. Ungeachtet der Hindernisse, wie den zwischen ihnen liegenden Strom, findet das lyrische Ich Wege, über das Singen und die Hilfe der Natur selbst, seine Botschaft zu übermitteln. Dabei wird das anfängliche Bild einer sorglosen, sommerlichen Begebenheit mit jeder Strophe intensiver und dramatischer in seiner Darstellung.

In Bezug auf Form und Sprache ist Kellers Gedicht in traditionelle Verse unterteilt, wobei jede Strophe aus acht Versen besteht. Keller nutzt starke, lebendige Bilder und Metaphern, um das Eindringen der Nacht und die immense Entfernung zwischen dem lyrischen Ich und seiner Geliebten zu verdeutlichen. Zudem setzt der Autor die Natur als Instrument ein, um Gefühle und Stimmungen abzubilden und die Handlungsintentionen des lyrischen Ichs zu unterstützen. So wird zum Beispiel der aufziehende Sturm als musikalischer Begleiter und die Mühle als Zitherspieler personifiziert.

Unter Berücksichtigung aller oben genannten Aspekte, scheint Kellers Gedicht die Themen der Sehnsucht, der Liebe und des unermüdlichen Strebens nach Verbindung trotz Entfernungen und Hindernissen zu behandeln. Es ist eine romantische Ode an die Kraft der Liebe und die Ausdauer des Geistes, die durch die Natur und Musik zum Ausdruck gebracht wird.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Der Nachtschwärmer“ des Autors Gottfried Keller. Im Jahr 1819 wurde Keller in Zürich geboren. In der Zeit von 1835 bis 1890 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Realismus zuordnen. Keller ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das 223 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 40 Versen mit insgesamt 5 Strophen. Weitere Werke des Dichters Gottfried Keller sind „Der Kirchenbesuch“, „Auf den Tod der Luise Scheidegger (1866)“ und „Abendregen“. Zum Autor des Gedichtes „Der Nachtschwärmer“ haben wir auf abi-pur.de weitere 48 Gedichte veröffentlicht.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Fertige Biographien und Interpretationen, Analysen oder Zusammenfassungen zu Werken des Autors Gottfried Keller

Wir haben in unserem Hausaufgaben- und Referate-Archiv weitere Informationen zu Gottfried Keller und seinem Gedicht „Der Nachtschwärmer“ zusammengestellt. Diese Dokumente könnten Dich interessieren.

Weitere Gedichte des Autors Gottfried Keller (Infos zum Autor)

Zum Autor Gottfried Keller sind auf abi-pur.de 48 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.