Die kleine Passion von Gottfried Keller

Der sonnige Duft, Semptemberluft,
sie wehten ein Mücklein mir aufs Buch.
Das suchte sich die Ruhegruft
und fern vom Wald sein Leichentuch.
Vier Flügelein von Seiden fein
trug's auf dem Rücken zart,
drin man im Regenbogenschein
spielendes Licht gewahrt!
Hellgrün das schlanke Leibchen war,
10 
hellgrün der Füßchen dreifach Paar,
11 
und auf dem Köpfchen wundersam
12 
saß ein Federbüschchen stramm;
13 
die Äuglein wie ein goldnes Erz
14 
glänzten mir in das tiefste Herz.
15 
Dies zierliche und manierliche Wesen
16 
hatt' sich zu Gruft und Leichentuch
17 
das glänzende Papier erlesen,
18 
darin ich las, ein dichterliches Buch;
19 
so ließ den Band ich aufgeschlagen
20 
und sah erstaunt dem Sterben zu,
21 
wie langsam, langsam ohne Klagen
22 
das Tierlein kam zu seiner Ruh.
23 
Drei Tage ging es müd und matt
24 
umher auf dem Papiere;
25 
die Flügelein von Seide fein,
26 
sie glänzten alle viere.
27 
Am vierten Tage stand es still
28 
gerade auf dem Wörtlein "will"!
29 
Gar tapfer stand's auf selbem Raum,
30 
hob je ein Füßchen wie im Traum;
31 
am fünften Tage legt' es sich,
32 
doch noch am sechsten regt' es sich;
33 
am siebten endlich siegt' der Tod,
34 
da war zu Ende seine Not.
35 
Nun ruht im Buch sein leicht Gebein,
36 
mög' uns sein Frieden eigen sein!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.1 KB)

Details zum Gedicht „Die kleine Passion“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
36
Anzahl Wörter
196
Entstehungsjahr
1819 - 1890
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht „Die kleine Passion“ wurde von Gottfried Keller verfasst, einem Schweizer Dichter des 19. Jahrhunderts. Die thematische Einordnung lässt sich anhand der Sprache und Thematik auf den Realismus eingrenzen, eine Epoche, die von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis etwa 1900 andauert.

Auf den ersten Blick ist das Gedicht um einen sehr alltäglichen und unscheinbaren Moment herum aufgebaut: ein kleines Insekt, eine Mücke, landet auf dem Buch des lyrischen Ichs und stirbt langsam. Der intensive Blick auf diesen natürlichen, unspektakulären Prozess kann gleichzeitig als metaphorische Verarbeitung des Todes oder der Vergänglichkeit allgemein verstanden werden.

Die 36 Verse des Gedichts schildern mit viel Detail das Aussehen und schließlich den Tod des kleinen Insekts. Das lyrische Ich beobachtet das Insekt intensiv und voller Mitgefühl, dies zeigt eine tiefere Achtung und Respekt vor dem Leben und dessen Eindämmigkeit, selbst wenn es nur das Leben einer kleinen Mücke ist.

In Form und Sprache ist das Gedicht sehr malerisch gehalten. Keller nutzt viele farbige und sinnliche Beschreibungen (wie „sonniger Duft“, „Regenbogenschimmer“ oder „goldnes Erz“) und verleiht so selbst der kleinsten Szene eine fühlbare, lebendige Atmosphäre. Der gereimte Vers, die klare, unverschnörkelte Sprache, wiederholte Motive und der ruhige, kontemplative Ton unterstreichen den ernsten, zugleich aber auch die verblüffende Schönheit dieser stillen kleinen 'Passion'.

Die 'Tragödie' des Insekts wird durch die Verwendung der Worte „Gruft“ und „Leichentuch“ zusätzlich verstärkt und dramatisiert. Interessant ist auch die Wortwahl „Passion“, die sowohl als Leiden als auch als intensives Gefühl interpretiert werden kann, was zu dieser Doppeldeutigkeit von Tod und Schönheit beiträgt, die das Gedicht ausmacht.

Insgesamt ein eindrückliches Beispiel für Kellers Fähigkeit, mittels präzise und detailreicher Dichtung einfache Beobachtungen der Natur in tiefgehende Reflexionen über Leben und Tod zu verwandeln.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Die kleine Passion“ ist Gottfried Keller. Im Jahr 1819 wurde Keller in Zürich geboren. In der Zeit von 1835 bis 1890 ist das Gedicht entstanden. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Realismus zugeordnet werden. Bei Keller handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 196 Wörter. Es baut sich aus nur einer Strophe auf und besteht aus 36 Versen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Gottfried Keller sind „Abendregen“, „Abendlied“ und „In der Trauer“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Die kleine Passion“ weitere 48 Gedichte vor.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Fertige Biographien und Interpretationen, Analysen oder Zusammenfassungen zu Werken des Autors Gottfried Keller

Wir haben in unserem Hausaufgaben- und Referate-Archiv weitere Informationen zu Gottfried Keller und seinem Gedicht „Die kleine Passion“ zusammengestellt. Diese Dokumente könnten Dich interessieren.

Weitere Gedichte des Autors Gottfried Keller (Infos zum Autor)

Zum Autor Gottfried Keller sind auf abi-pur.de 48 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.