Der Tag von Georg Heym

1	Palmyras Tempelstaub bläst auf der Wind,
2	Der durch die Hallen säuselt in der Zeit
3	Des leeren Mittags, wo die Sonne weit
4	Im Blauen rast. Der goldene Atem spinnt,
5	Der goldene Staub des Mittags sich wie Rauch
6	Im Glanz der Wüste, wie ein seidenes Zelt
7	Der ungeheuren Fläche. Dach der Welt.
8	Wie ferne Flöten tönt des Zephirs Hauch,
9	Und leise singt der Sand. Doch unverweilt
10	Jagt hoch das Licht. Damaskus Rosenduft
11	Schlägt auf wie eine Woge in die Luft,
12	Wie eine Flamme, die den Äther teilt.
13	Der weißen Stiere roter Blutsaft schäumt
14	Auf Tempelhöfen, wo das Volk im Kranz
15	Des Blutes Regen fühlt, und seinen Glanz,
16	Der mit Rubinen ihre Togen säumt.
17	Ein Tänzer tanzt im blauen Mittagsrot
18	Auf weißer Platte, der vom Strahle trank. –
19	Das Licht entflieht. Der Libanon versank,
20	Der Zedern Haus, das sich dem Gotte bot.
21	Und westwärts eilt der Tag. Mit tiefem Gold
22	Ist weit des Westens Wölbung angefüllt:
23	Des Gottes Rundschild, der die Schultern hüllt
24	Des Flüchtigen. Sein blauer Helmbusch rollt
25	Darob im Sturme weit am Horizont,
26	Am Meer, und seiner Inseln Perlenseil.
27	Er eilt dahin, wo schon der Ida steil
28	Mit Eichen tost und dröhnt der Hellespont.
29	Das Stromland fort, dem grünen Abend zu.
30	Wie der Drommete Ton erschallt sein Gang
31	An Ossas Echo. Troas Schilf entlang,
32	In rote Wälder tritt sein Purpurschuh,
33	In Sammetwiesen weich. Dem Feuer nach,
34	Das einst gen Argos flog, tritt machtvoll er
35	Auf Chalkis hin. Darunter rauscht das Meer
36	Hervor aus grüner Grotten Steingemach.
37	Sein Arm, den er auf Meer und Lande streckt,
38	Ragt dunkel auf wie eine Feuersbrunst.
39	Sein Atem füllt das Meer mit schwarzem Dunst,
40	Des weißes Maul die roten Sohlen leckt.
41	Auf Marathon schleppt seines Mantels Saum
42	Ein violetter Streif, wo schon das Horn
43	Der Muschel stimmt am Strand der Toten vorn
44	Der Sturmgott laut aus weißer Brandung Schaum.
45	Des Rohres rote Fahnen rührt der Wind
46	Von seines Fußes Fittich um am Strand
47	Der fernen Elis, da der Nacht Trabant,
48	Schildknappe Mond, den dunklen Pfad beginnt.

Details zum Gedicht „Der Tag“

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der Tag“ ist ein Werk des deutschen Ausdruckskünstlers Georg Heym, veröffentlicht zwischen 1907 und 1912. Heym wurde am 30. Oktober 1887 geboren und starb am 16. Januar 1912. Er ist einer der bedeutsamsten Dichter des literarischen Expressionismus.

Durch die vielseitige und bildreiche Beschreibung des Tagesverlaufs weckt Heym ein intensives Gefühl von Wandel, Bewegung und Vergänglichkeit. Der erste Eindruck des Gedichts ist geprägt von opulenten Landschafts- und Stadtszenarien, die mit bemerkenswerter Farbigkeit und Sinnlichkeit dargestellt werden.

Inhaltlich folgt das Gedicht dem Zyklus eines einzigen Tages und ist wie eine Reise aus der Perspektive der Sonne. Das lyrische Ich beginnt die Reise in der östlichen Wüstenstadt Palmyra, wo die Sonne gerade den Mittag erlebt. Mit der Zeit bewegt sich der Tag westwärts durch verschiedene Regionen - Damaskus, Libanon, das Meer und die grünen Abendwiesen. Es endet mit dem Einbruch der Nacht, symbolisiert durch den „dunklen Pfad“, den der „Schildknappe Mond“ beginnt.

Die dichte, altertümelnde und symbolgeladene Sprache unterstreicht die mythische und sakrale Dimension des Tagesverlaufs. Die Reise der Sonne wird in einer Reihe von bildhaften und metapherngeladenen Beschreibungen dargestellt, so wird die Sonne als „Flüchtling“ beschrieben, dessen „blauer Helmbusch“ über dem „Meer und seiner Inseln Perlenseil“ rollt.

Formal besteht das Gedicht aus zwölf vierzeiligen Strophen, die formal als Quartette bezeichnet werden und sich durch einen sehr regelmäßigen Versmaß auszeichnen. Diese streng geregelten Form fördert den rituellen und sakralen Ausdruck des Werks und betont den systematischen Ablauf des Tages, den die Natur hier abbildet.

Zusammenfassend lädt das Gedicht „Der Tag“ von Georg Heym den Leser zu einer metaphorischen Reise durch den Zyklus eines Tages ein. Dabei nutzt er eine starke, bildreiche und sinnliche Sprache, um die dynamischen Veränderungen und die universelle Bedeutung des Tagesverlaufs zu betonen.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Der Tag“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Georg Heym. Der Autor Georg Heym wurde 1887 in Hirschberg geboren. Im Jahr 1911 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Leipzig. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Expressionismus zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Heym handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 329 Wörter. Es baut sich aus 12 Strophen auf und besteht aus 48 Versen. Der Dichter Georg Heym ist auch der Autor für Gedichte wie „Berlin II“, „Berlin III“ und „Bist Du nun tot?“. Zum Autor des Gedichtes „Der Tag“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 79 Gedichte vor.

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