Vision von Gottfried Keller

Ich ging am grünen Berge hin, wo sich der Weih
im Äther wiegt
Und reisemüd' der Sonnenstrahl ausruhend auf der Quelle
liegt,
Wo wilde Rosen einsam blühn, die Föhre hoch den Gipfel
kränzt
Und drüberhin noch eine Burg von weißen Sonnenwolken
glänzt.
 
Ich dacht' an dich, mein süßes Kind, an unsrer Herzen
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stillen Schlag,
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An unser heimlich Liebesband, und was daraus noch
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werden mag.
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Ich dachte noch gar mancherlei, was sehnend mir die
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Brust bewegt,
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Und was auch jetzt im Traum vielleicht dein spiegelklar
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Gemüt erregt.
 
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Und wie in solcher Weihezeit mein Gott schon manch
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mal zu mir trat,
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Erschien er jetzo in des Bergs frisch jugendgrüner Eichen
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saat.
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Der jungen Stämme schlanke Schar umschwankte säuselnd
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seine Knie;
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So groß und herrlich ging er her vor meiner regen
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Phantasie.
 
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Sein Haupthaar war wie Morgengold und wallte gar
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so reich und schwer,
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Und in den klaren Augen ruht ein ätherblaues Liebes
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meer;
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Ein Regenbogen zog um ihn als Gurt die edle Farben
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lust;
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Er trug 'nen weißen Blütenstrauß von jungen Linden an
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der Brust.
 
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So traf mich seines Auges Strahl wie warmer Sonnen
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schein im Mai,
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Und als er meinen Namen sprach, erhob mein Haupt sich
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stolz und frei;
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Ich wuchs und blühte rasch empor, daß ich mir selbst ein
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Wunder schien,
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Und wandelte mit leichtem Schritt an Gottes hoher Seite
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hin.
 
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Und plaudernd nun erzählte ich Gott all mein irdisch
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Thun und Sein.
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Doch alles dies geschieht ja nur aus dir, du schönes Kind
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allein.
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Aus vollem Herzen sprach ich drum von dir, von dir die
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ganze Zeit;
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Er aber spiegelt lächelnd sich in meiner frohen Seligkeit.
 
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Dann trug ich ihm auch klagend vor, wie ich so gar
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ein armes Blut,
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Und bat darauf um Haus und Hof, um Bett und Schrein,
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um Geld und Gut,
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Um Garten, Feld und Rebenland, um eine ganze Heimat
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traut,
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Darin ich dich empfangen könnt' als reichgeschmückte
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Herzensbraut.
 
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Es mußte doch einmal geschehn, drum schilt mich nicht
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und werd' nicht rot;
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Hör' an, wie mir der Herr für dich gar eine schöne Mit
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gift bot.
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Er sprach: ?Zu wenig und zu viel hast du verlangt, mein
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lieber Sohn!
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Drum thu' ich dir noch viel dazu und nehm' ein wenig
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auch davon.
 
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Ich gebe euch nicht Haus und Hof, doch meine ganze
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reiche Welt,
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Darinnen ihr euch lieben könnt, wie's euren Herzen wohl
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gefällt.
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Zwei jungen Seelen ist zu eng das größte Haus, sei's
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noch so weit:
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Doch finden sie noch eben Raum in meiner Schöpfung
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Herrlichkeit.
 
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Der ganze Lenz soll euer sein, so weit nur eine Blume
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blüht,
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Doch nicht das allerkleinste Beet, um das sich eine Hecke
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zieht.
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Ich gebe euch kein Prunkgemach, kein Silberzeug, kein
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Kerzenlicht,
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Weil sich ob Silberbronnenschall Goldstern an Stern zum
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Kranz euch flicht.
 
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Und Alles soll besonders blühn für euch, und schöner,
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wo ihr geht,
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Dieweil euch in mein Paradies ein eigen Pförtlein offen
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steht.
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So führe dein junge Braut getrost in deine Heimat ein;
85 
Brautführer soll mein lieblichster und allerschönster Früh
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ling sein.
 
87 
Die Armut sei die Ehrendam' bei deines Herzens
88 
Königin,
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Ihr hübscher, zarter Page sei ein immergrüner Jugend
90 
sinn.
91 
Zum Haushofmeister geb' ich euch ein leicht und fröhlich
92 
Gottvertrau'n;
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Es ist ein klug erfahr'ner Mann, dürft auf ihn wie auf
94 
Felsen bau'n."
 
95 
?Ist unser Haus nicht gut bestellt und auserlesen das
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Gesind?
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So zaudre nun nicht länger mehr und folge mir, du
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blödes Kind!
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Ich glaub' auf deinen Wangen spielt vom Morgenrot
100 
ein Wiederschein:
101 
Sobald die Sonn' am Himmel steht, will ich als Freier
102 
bei dir sein."
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (33.7 KB)

Details zum Gedicht „Vision“

Anzahl Strophen
13
Anzahl Verse
102
Anzahl Wörter
582
Entstehungsjahr
1819 - 1890
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Der Autor des vorliegenden Gedichts ist der schweizerische Dichter Gottfried Keller, der von 1819 bis 1890 lebte. Das Gedicht fällt somit in die Epoche des Realismus in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts.

Auf den ersten Blick handelt es sich bei dem langen Gedicht „Vision“ um das lyrische Ich, das in einer beglückenden Naturkulisse umherwandert, an seine geliebte Person denkt und eine Gottesbegegnung hat. Besonders auffallend ist das intensive Naturerlebnis und die mit Freude und Hoffnung durchzogene Stimmung.

Inhaltlich gibt es mehrere Themenstränge: Zunächst beschreibt das lyrische Ich eine idyllische Landschaft und seine innige Liebe zu einer anderen Person. In dieser entspannten Atmosphäre erscheint ihm Gott, wobei naturhafte Metaphern genutzt werden, um seine Erscheinung zu umschreiben. Es entsteht ein intensiver Dialog, in dem das lyrische Ich zunächst über sein Leben und die Geliebte spricht und dann Gott um materiellen Reichtum bittet, um seiner Geliebten ein angemessenes Leben bieten zu können. Gott antwortet, indem er ihm die ganze Schönheit und Fülle der Natur als Geschenk anbietet, sowie das Vertrauen in ihn selbst. Diese irdische Spiritualität ist typisch für den Realismus.

Die Form des Gedichts ist geprägt durch Strophen unterschiedlicher Länge, meist mit sieben oder acht Versen. Es herrscht ein regelmäßiger vierhebiger Jambus vor, die Kadenzen variieren zwischen männlich und weiblich. Die Sprache des Gedichts ist bildreich und anschaulich, häufig werden Metaphern und andere sprachliche Bilder gebraucht.

Die lyrische Naturbeschreibung und die thematisierte Liebe, der Dialog mit Gott und die Ablehnung von materiellem Reichtum zugunsten natürlicher und spiritueller Fülle stellen das Gedicht in den Kontext seiner Zeit, in dem die Auseinandersetzung mit der Industrialisierung und dem Werteverfall eine große Rolle spielte. Aber auch die Suche nach einer glücklichen Beziehung und die Beschäftigung mit dem Göttlichen sind zeitlose Themen, die jedem Leser vertraut sind.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Vision“ ist Gottfried Keller. Keller wurde im Jahr 1819 in Zürich geboren. Zwischen den Jahren 1835 und 1890 ist das Gedicht entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Realismus zu. Bei Keller handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 582 Wörter. Es baut sich aus 13 Strophen auf und besteht aus 102 Versen. Der Dichter Gottfried Keller ist auch der Autor für Gedichte wie „Auf den Tod der Luise Scheidegger (1866)“, „Abendregen“ und „Abendlied“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Vision“ weitere 48 Gedichte vor.

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