Unruhe der Nacht von Gottfried Keller

Nun bin ich untreu worden
Dem hellen Sonnenschein;
Die Nacht, die Nacht soll Dame
Nun meines Herzens sein!
 
Sie ist von düstrer Schönheit,
Hat bleiches Nornengesicht;
Und eine Sternenkrone
Ihr dunkles Haupt umflicht.
 
Heut' ist sie so beklommen,
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Unruhig und voller Pein;
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Sie denkt wohl an ihre Jugend
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Das muß ein Gedächtnis sein!
 
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Es weht durch alle Täler
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Ein Stöhnen, so klagend und bang:
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Wie Tränenbäche fließen
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Die Quellen vom Bergeshang.
 
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Die schwarzen Fichten sausen
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Und wiegen sich her und hin,
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Und über die wilde Haide
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Verlorne Lichter fliehn.
 
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Dem Himmel bringt ein Ständchen
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Das dumpf aufrauschende Meer,
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Und über mir zieht ein Gewitter
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Mit klingendem Spiele daher.
 
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Es will vielleicht betäuben
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Die Nacht den uralten Schmerz?
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Und an noch ältere Sünden
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Denkt wohl ihr reuiges Herz?
 
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Ich möchte mit ihr plaudern,
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Wie man mit dem Liebchen spricht
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Umsonst, in ihrem Grame
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Sie sieht und hört mich nicht!
 
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Ich möchte sie gern befragen
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Und werde doch immer gestört
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Ob sie vor meiner Geburt schon
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Wo meinen Namen gehört?
 
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Sie ist eine alte Sibylle
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Und kennt sich selber kaum;
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Sie und der Tod und wir alle
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Sind Träume von einem Traum.
 
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Ich will mich schlafen legen,
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Der Morgenwind schon zieht
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Ihr Trauerweiden am Kirchhof,
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Summt mir mein Schlummerlied!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.9 KB)

Details zum Gedicht „Unruhe der Nacht“

Anzahl Strophen
11
Anzahl Verse
44
Anzahl Wörter
207
Entstehungsjahr
1819 - 1890
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Unruhe der Nacht“ wurde von Gottfried Keller verfasst, einem prominenten Dichter und Romancier, der von 1819 bis 1890 lebte. Keller ist ein wichtiger Vertreter der deutschen Literaturbewegung des Realismus, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stattfand.

Auf den ersten Blick scheint dieses Gedicht ein melancholischer Ausdruck der Nacht und ihrer Qualitäten zu sein. Es gibt eine starke Darstellung der Nacht als mystisches, leidvolles Wesen, das sowohl Schönheit als auch Erinnerungen birgt.

Inhaltlich bezieht sich das Gedicht auf die Gefühle des lyrischen Ichs für die Nacht, die als unruhig und traurig dargestellt wird. Durch das Gedicht hindurch, scheint das lyrische Ich untreu der Sonne zu werden und im Dunkel der Nacht Trost zu finden. Die Nacht wird als traurige, alte Frau dargestellt, die möglicherweise in der Vergangenheit Fehler gemacht hat und sich nun darauf besinnt. Es scheint eine tiefgreifende Verbindung zwischen dem lyrischen Ich und der Nacht zu geben, wobei das lyrische Ich versucht, mit der Nacht zu kommunizieren und Antworten auf seine tiefsten Fragen zu finden.

Formal besteht das Gedicht aus elf vierzeiligen Strophen, die alle über ein einheitliches Reimschema verfügen. Die Sprache ist leicht verständlich, obwohl das Vokabular etwas archaisch ist (z.B. „Nornengesicht“, „Trauerweiden“, „Sibylle“ etc.). Kellers Verwendung von Metaphern und Symbolen (wie Sternenkronen, Tränenbäche und schwarzen Fichten) verleiht dem Gedicht eine besondere atmosphärische und mystische Note.

Die Nacht ist in diesem Gedicht nicht nur eine Zeitperiode, sondern ein Lebewesen, oder vielleicht sogar eine Göttin, was durch die Verwendung von Wörtern wie „Dame“, „Sibylle“ und „Nornengesicht“ verdeutlicht wird. Gleichzeitig steht sie symbolisch für Themen wie Vergänglichkeit, Traurigkeit und Einsamkeit und ebenso für tiefgründige philosophische Fragen des Daseins.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Unruhe der Nacht“ primär ein Gedicht über die Auseinandersetzung des lyrischen Ichs mit seinen innersten Gefühlen, Träumen und Ängsten ist, welche durch die Metapher der Nacht ausgedrückt werden. Dabei weist das Gedicht typische Merkmale des Realismus, wie das tiefgreifende Interesse für das Innenleben der Menschen und das Streben nach Wahrhaftigkeit, auf.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Unruhe der Nacht“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Gottfried Keller. Der Autor Gottfried Keller wurde 1819 in Zürich geboren. In der Zeit von 1835 bis 1890 ist das Gedicht entstanden. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Realismus zugeordnet werden. Bei Keller handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 44 Versen mit insgesamt 11 Strophen und umfasst dabei 207 Worte. Gottfried Keller ist auch der Autor für Gedichte wie „Herbstnacht“, „Herbstlied“ und „Die Zeit geht nicht“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Unruhe der Nacht“ weitere 48 Gedichte vor.

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