Der Gekrönte von Otto Ernst

1	Von eines kunstgeweihten Tempels Stufen
2	Stieg er herab: der Sieger im Gesang.
3	Im abendlichen Dunkel dicht gedrängt,
4	In langen Reihen harrte sein die Menge.
5	Wohin er lächelnd schritt, da brandete,
6	Brausend im Anprall, die Begeisterung;
7	Der Fackeln Glut umflog die hohe Stirn
8	Ganz wie das düst’re Flackerlicht des Ruhms.
9	Und mit ihm ging die Woge ihres Zurufs
10	Und trug ihn wie auf holdbewegter Flut.
11	Erstiegen war der Gipfel – und vergessen
12	War das verschwiegene Elend langer Jahre,
13	Sein nie belohntes Ringen um den Preis,
14	Der Massen Stumpfsinn, Niedertracht und Hohn.
15	Des Volkes Gunst erhob ihn über alle
16	Und trug ihn nun gewiß zum sich’ren Hafen.
17	Und wie er dankend, lächelnd schritt dahin,
18	Hört’ er Gelächter neben sich – Gelächter ...
19	Hört’ er dergleichen nicht in frühern Tagen?
20	Und einen Mann erblickt’ er bald, bedrängt
21	Von einer Schar von Spöttern. Und sie riefen:
22	„He, Freundchen, schau: so sieht ein Dichter aus!
23	Betracht ihn recht! Allein, wie ist mir denn?
24	Du bist ja auch ein ‚Dichter‘! Wenigstens
25	Glaubst du es selbst! Ja willst du denn dem Sieger
26	Nicht deinen Gruß entbieten? Nicht die Hand
27	Ihm reichen als – Kollege? Hahahaaa!“
28	Und lauter scholl das Lachen.
29	Der Geschmähte
30	Sah fern ins Dunkel, bleich bis in die Lippen;
31	Die Seele war noch jung genug zum Schmerz.
32	Der Sieger kannte nicht den so Verhöhnten,
33	Nicht seines Liedes Kraft. Allein er kannte
34	Vortrefflich Stimm’ und Antlitz jener Edlen.
35	Das waren ganz dieselben breiten Fratzen,
36	Die in den Morgen seines jungen Glaubens
37	Hineingegrinst, dieselben Stimmen waren's,
38	Die ihm das reine, adlerfrohe Herz
39	Mit Geifer überströmt. Der Pöbel war es,
40	Der ungeheure, der nicht Götter hat,
41	Nein Götzen nur, Idole, selbstgemachte,
42	Und der nach vornen nicht kann beten, ohne
43	Mit Eselshufen hinten auszuschlagen.
44	Der Seele Gleichgewicht verlangt es so.
45	Und sah es überall nicht gleiche Züge?
46	Auch hier – und hier? Und solch Gesindel pries ihn
47	Und hob ihn jauchzend himmelhoch empor –
48	Da griff in des Gekrönten Herz das Heimweh
49	Nach seines Kummers reinen, stolzen Tagen,
50	Heimweh nach tiefer Nächte heiligen Schatten,
51	Nach ihrer Stimmen, ihrer Sterne Gruß;
52	Heimweh nach seines Glaubens Morgenröten,
53	Nach hohen Festen seiner Einsamkeit,
54	Nach jener Jünglingsträne, die nicht fließt,
55	Weil sie des Auges Glut zu rasch verzehrt,
56	Heimweh nach bitt’rem Jubel, trotziger Lust,
57	Nach reicher Not und königlicher Schmach.
58	Und Heimweh zog sein Herz zu seinen Brüdern,
59	Die er verlassen, die in Staub und Hunger,
60	Verhöhnt, verfolgt, in dunkler Tiefe keuchten,
61	Indessen er auf freier Höhe stand ...
62	Ausstreckt’ er weit die Hand, daß der Verhöhnte
63	Sie jäh ergriff mit dankbewegter Hast. – –
64	Wem hohe Kraft die Schöpferseele füllt
65	– Trägt auch der Menge Gunst ihn bis ans Ende –
66	An seiner Frühe Leiden hängt sein Herz;
67	Bei den Verschmähten ist sein Heimatland.

Details zum Gedicht „Der Gekrönte“

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichts „Der Gekrönte“ ist Otto Ernst, ein deutscher Schriftsteller, der im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert lebte und wirkte. Daher kann das Gedicht zeitlich der literarischen Epoche des Realismus zugeordnet werden.

Beim Lesen des Gedichts fällt auf, dass es eine Art Erzählung ist, in der eine Geschichte von Sieg, Ruhm und Schmach wiedergegeben wird. Der Protagonist wird als „Sieger im Gesang“ und als „Gekrönter“ beschrieben, was auf seine erfolgreiche Karriere als Künstler oder Dichter hindeutet. Er erhält die Bewunderung der Masse, doch diese Begeisterung ist von kurzer Dauer. Die Menge wendet sich gegen einen anderen Mann, der verspottet und als falscher Dichter verunglimpft wird.

Inhaltlich scheint das lyrische Ich eine Kritik an der Oberflächlichkeit und Wankelmütigkeit des Publikums und des Ruhms auszudrücken. Zugleich wird die Einsamkeit und Schmach des künstlerischen Lebens hervorgehoben, die selbst im Moment des Erfolgs immer noch präsent ist. Der „Gekrönte“ fühlt sich trotz seiner Anerkennung nicht wohl und sehnt sich nach seinen früheren Zeiten der Anonymität und seiner Gemeinschaft mit anderen Künstlern, die Verspottung und Missbilligung ausgesetzt waren.

Das Gedicht ist in Vierzeilern geschrieben und hat ein regelmäßiges Metrum, was es rhythmisch und melodiös macht. Die Sprache ist bildhaft und metaphorisch, mit starkem Gebrauch von personifizierten Begriffen und symbolischen Bildern, wie die des „Ruhms“ und des „Heimwehs“. Insgesamt erzeugt dies eine dramatische und emotionale Atmosphäre.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Der Gekrönte“ eine introspektive Betrachtung des Ruhms und des künstlerischen Schaffens ist, die die Schwierigkeiten und inneren Konflikte des kreativen Lebens hervorhebt. Es stellt grundlegende Fragen über den Wert von Anerkennung und den Preis des Erfolgs, während es die Gedanken und Gefühle des Künstlers in den Vordergrund stellt.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Der Gekrönte“ des Autors Otto Ernst. Der Autor Otto Ernst wurde 1862 in Ottensen bei Hamburg geboren. 1907 ist das Gedicht entstanden. In Leipzig ist der Text erschienen. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Moderne zu. Bei Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit der Zuordnung. Die Auswahl der Epoche ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und muss daher nicht unbedingt richtig sein. Das Gedicht besteht aus 67 Versen mit insgesamt 6 Strophen und umfasst dabei 444 Worte. Otto Ernst ist auch der Autor für Gedichte wie „Auf dem Morgengange“, „Auflösung“ und „Aus einer Nacht“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Der Gekrönte“ weitere 64 Gedichte vor.

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