Gottfried Benn: Gefilde der Unseligen
Satt bin ich meiner Inselsucht,
des toten Grüns, der stummen Herden;
ich will ein Ufer, eine Bucht
ein Hafen schöner Schiffe werden.
Mein Strand will sich von Lebenden
mit warmem Fuß begangen fühlen;
die Quelle murrt in gebendem
Gelüste und will Kehlen Kühlen.
Und alles will in fremdes Blut
aufsteigen und ertrunken treiben
in eines andern Lebensglut,
und nichts will in sich selber bleiben.
In diesem Werk wird die Frage gestellt, ob das Lebensglück durch Ausgrenzung oder Integration von anderen Menschen erreicht werden kann. Benn schreibt von einem Menschen, dem lyrischen Ich, der: „genug von der Inselsucht, totem Grün und stummen Herden hat“, was ein Zeichen für die Suche nach dem Weg aus der Einsamkeit ist - der Sehnsucht nach Kontakt mit anderen Menschen. Den ersten Schritt will er aber nicht unternehmen, das zeigt sich in der Passivischkeit des Ausdrucks: „mein Strand will sich... begangen Fühlen“. In der letzten Strophe wird die Sehnsucht nach Glück in der Integration mit anderen Menschen durch die Worte: „in eines andere Lebensglut...“ verdeutlicht. Man kann dies als das Verlangen nach einem ewigen, christlichen Leben sehen. Eventuell inspirierten Benn seine Theologiesemester zu diesem Gedanken, ganz nach dem Ideal von Erneuerung und Wiedergeburt.
Politisch interpretiert könnte die Inselsucht der aufkommende expressionistische Gedanke sein, der am Anfang nur von wenigen Menschen getragen wird, hier vom lyrischen Ich, das sich daher einsam fühlt. Die stummen Herden wären dann die Massen des Volkes bzw. die wilhelminische Gesellschaft. Das lyrische Ich will nun aus dem Dschungel des toten Grüns zum Ufer, zum Strand, zu anderen Menschen - von der Ausgrenzung zur Integration - das optimistische Vorwärtsdrängen um die Erneuerung, die Revolution zu erleben.
Jedoch wünscht es sich, daß die Menschen von sich aus auf es zukommen, was der passivische Ausdruck: „Mein Strand will sich begangen fühlen“ zeigen könnte. Als Gegenleistung wäre die Person dann bereit, die Kehlen der werdenden Übermenschen zu kühlen. In der letzten Strophe will „alles in fremdes Blut aufsteigen...in eines anderen Lebensglut ...und nichts in sich selber bleiben“, der revolutionäre Gedanke setzt sich in den Köpfen fest, geht in Fleisch und Blut über, zur Entfaltung des Einzelnen im Gegensatz zur Enthumanisierung des Imperialismus. In diesem Werk, das aus drei Strophen mit stets vier Zeilen und dem Reimschema abab besteht, sind ganz besonders viele Chiffren (z.B. Inselsucht) und neue Wortkombinationen (Lebensglut) vorhanden, auch der Verfremdungseffekt, die Farbsymbolik (totes Grün) das lyrische Ich und die ausdrucksstarken Bilder sind typisch für ein eher optimistisch orientiertes Gedicht der expressionistischen Epoche.