Die Glocke von Innisfare von Friedrich Halm

Weihnachtsabend, Fest der Kleinen,
wie sie harren auf dein Erscheinen,
wie mit freuderoten Wangen
jubelnd laut sie dich empfangen!
Weihnachtsabend, bei arm und reich,
überall grünt dein Tannenzweig,
überall brennen deine Kerzen,
überall schlagen kleine Herzen,
strecken hastig kleine Hände
10 
sich entgegen deiner Spende,
11 
überall grüßt dich, wo es sei,
12 
Weihnachtsabend, ein Freudenschrei!
 
13 
Weihnachtsabend, Fest der Kleinen,
14 
dorther grüßt dich leises Weinen!
15 
Dort, wo Schottlands klarer Tweed
16 
rauscht durch Cheviots Waldgebiet,
17 
wo sich zwischen Felsenengen
18 
Coldstreams Hütten zusammendrängen,
19 
dort im Stübchen, arm und kahl,
20 
in der Dämmerung mattem Strahl
21 
wacht ein Kind am Schmerzenslager,
22 
drauf die Mutter, blaß und hager,
23 
ächzt und stöhnt in Fieberqual.
24 
Arme Mary, zehnmal kaum
25 
sah sie blühen den Apfelbaum,
26 
und schon gelben Sturm und Wetter
27 
ihr des Lebensbaumes Blätter,
28 
sorgend sitzt sie, horcht und lauscht,
29 
wie der Mutter Pulsschlag rauscht,
30 
blickt im Dunkeln scheu umher,
31 
und, das Herz von Kummer schwer,
32 
grüßt sie still mit leisem Weinen,
33 
Weihnachtsabend, dein Erscheinen.
 
34 
Durch die rauchgeschwärzten Scheiben
35 
irrt der Blick und starrt hinaus
36 
in des Nachtgewölkes Treiben;
37 
sieh, da geht im Nachbarhaus
38 
Licht an Licht auf, hell wie Sterne,
39 
Weihnachtsjubel schallt von ferne,
40 
froher Spiele Saus und Braus,
41 
und vor Kummer und vor Sehnen
42 
heißer fließen Marys Tränen,
43 
und ihr Herz wird trüb? und trüber,
44 
horch, da schallt das Lied herüber,
45 
das zur Weihnachtsfeierstunde
46 
dorten geht von Mund zu Munde,
47 
also weht?s von ferne her:
48 
"Im Kloster von Innisfare,
49 
da tönt nicht Chor noch Orgel mehr,
50 
die schlimmen Sachsen warfen?s nieder,
51 
seitdem erhob es sich nicht wieder,
52 
in Trümmern liegt?s, mich dauert?s sehr,
53 
das Kloster von Innisfare.
 
54 
Vom Kloster von Innisfare
55 
nur eine Kapelle ist übrig mehr,
56 
drin hängt ein Glöcklein von gutem Klange,
57 
zieht einer zur rechten Zeit am Strange,
58 
wirkt Wunder rings im Land umher
59 
das Glöcklein von Innisfare.
 
60 
Das Glöcklein von Innisfare!
61 
Liegt ein, Kranker danieder schwer,
62 
daß er wieder euch gesunde,
63 
in der Christnacht zwölfter Stunde
64 
zieht das Glöcklein, ich rat? euch?s sehr,
65 
das Glöcklein von Innisfare."
 
66 
Leise war das Lied verklungen,
67 
und ein Seufzer, dumpf und schwer,
68 
tief vom Herzen losgerungen,
69 
tönt vom Schmerzenslager her,
70 
und der Worte mächtig kaum
71 
stammelt die Kranke im Fiebertraum:
72 
"Ja, die Glocke von Innisfare!
73 
Wenn noch dein Vater am Leben wär?
74 
daß er das Glöcklein mir läuten ginge,
75 
so entkäm? ich des Todes Schlinge,
76 
müßte nicht hier in Not verderben,
77 
Mary, mein Kind, da müßt? ich nicht sterben.
78 
Wenn noch dein Vater am Leben wär?!"
 
79 
Spricht?s und ? sinkt zurücke wieder,
80 
und Erschöpfung, bleiern schwer,
81 
1ähmt die Zunge, lähmt die Glieder.
82 
Schweigend senkt die Nacht sich nieder,
83 
rings ersterben Sang und Tanz,
84 
Festgejubel und Lichterglanz,
85 
stille, wird?s in allen Hütten,
86 
Christnacht kommt herangeschritten.
 
87 
Durch Coldstreams Schlucht weht Sturmgebraus,
88 
und löscht am Himmel die Sterne aus,
89 
Schnee wirbelt dicht und schwer,
90 
elf Schläge dröhnen vom Turme her.
91 
Der Riegel klirrt, es knarrt die Tür,
92 
wer wagt ins Freie sich herfür?
93 
Wer wagt in die wilde Nacht sich hinaus,
94 
in Schneegestöber und Sturmgebraus?
95 
Ein Mädchen ist?s, zart, schmächtig und klein,
96 
wohl hüllt es in sein Tuch sich ein,
97 
doch gibt?s die Füße nackt dem Eis,
98 
die blonden Locken dem Sturme preis,
99 
ein Stab bewehrt die eine Hand,
100 
die andere hält der Leuchte Brand,
101 
so eilt sie hin, rasch wie der Wind,
102 
und riet? ihr einer: "Steh still, mein Kind!
103 
Der Sturm verwehrt dich in deiner Flucht,
104 
der Schnee begräbt dich mit seiner Wucht,
105 
kehr? heim ins schützende Gemach,
106 
das Wetter will nicht - gib ihm nach!"
107 
Drauf spräch? sie nur: "Habt schönen Dank!
108 
Die Mutter liegt daheim schwerkrank,
109 
muß läuten das Glöcklein von Innisfare,
110 
mein Vater ist nicht am Leben mehr."
111 
Das spräche sie und eilte fort.
112 
Nehm? Gott sie denn in seinen Hort!
 
113 
Bergan, bergunter, hinab, hinauf,
114 
so stürmt sie hin in raschem Lauf,
115 
Schnee birgt die Kluft und deckt den Stein,
116 
hab? acht: glatt ist der Felsenrain!
117 
Sie strauchelt, sie gleitet - weh, sie fällt!
118 
Die Leuchte liegt am Stein zerschellt.
119 
Sie aber rafft sich frisch empor
120 
und eilt dahin rasch wie zuvor,
121 
eilt mutig weiter, hinab, hinauf,
122 
bergan, bergunter, in flücht?gem Lauf.
123 
Wohl trieft ihr Röcklein, wohl trieft ihr Haar,
124 
wohl steht auf der Stirne der Schweiß ihr klar,
125 
wohl wirbelt der Schnee rings schwer und dicht,
126 
sie achtet?s nicht, sie weiß es nicht,
127 
nach Innisfare nur steht ihr Sinn
 
128 
doch halt, wo trug ihr Fuß sie hin?
129 
Weil ihr die Leuchte dort zerbrach,
130 
ging irrend falschem Pfad sie nach,
131 
das Kloster liegt drüben auf der Höh?,
132 
und sie steht unten tief am See,
133 
wenn Eis auch die Flut in Fesseln legt,
134 
wer weiß, ob?s hält, wer weiß, ob?s trägt?
135 
Und soll sie zurücke? - Nimmermehr!
136 
Da dröhnen drei Schlage vom Dorfe her;
137 
"Dreiviertel auf zwölf! So helf mir Gott,
138 
ich muß hinüber und wär?s mein Tod!"
139 
Da ist sie schon am Uferrand.
140 
Halt ein, mein Kind, und bleib am Land!
141 
Das Eis ist dünn - noch ist es Zeit
142 
schon kracht?s und prasselt?s weit und breit.
143 
Da bricht?s - ein Schrei - nehm? deine Huld
144 
sie gnädig auf, die rein von Schuld!
145 
Doch nein - noch flimmert ihr weiß Gewand,
146 
von Scholle zu Scholle springt sie ans Land
 
147 
nun ist sie drüben, und nun im Lauf
148 
stürmt sie den Klosterberg hinauf.
149 
Nun ist sie oben, nun ist?s erreicht,
150 
nun schlägt das Herz ihr frei und leicht,
151 
nun atmet sie auf, tief, frei und lang,
152 
es ist vollbracht, der schwere Gang!
153 
Und vorwärts dringt in frommer Luft
154 
sie durch der Trümmer Schutt und Wust,
155 
nur eine Kapelle ist übrig mehr,
156 
dort ragt ihr spitzes Turmlein her,
157 
und aus dem Tünnlein glänzt von fern
158 
die Glocke her, ein Rettungsstern.
159 
Die Tür steht offen, sie tritt hinein,
160 
nun laß das Werk vollendet sein,
161 
zieh an das Glöcklein, das es klingt
162 
und deiner Mutter Genesung bringt!
163 
Was säumst du, Kind? Was suchst du lang?
164 
Greif zu - Herr Gott, es fehlt der Strang!
165 
Zu ihren Füßen, liegt im Staub
166 
sein karger Rest, des Moders Raub,
167 
die Treppe stürzte ein im Brand,
168 
die sonst empor zum Turm sich wand,
169 
kein Weg, kein Steg, der aufwärts führt,
170 
kein Hebel, der die Glocke rührt!
171 
Du armes Kind! Des Sturms Gebraus
172 
pfeift durch die Mauern und höhnt dich aus.
173 
Vergebens kamst du durch Wind und Schnee,
174 
vergebens drangst du über den See,
175 
vergebens streckst du die Arme dein
176 
zur Glocke empor! Es soll nicht sein!
177 
Im Dorfe schlägt es Mitternacht,
178 
der Himmel will?s nicht, sein ist die Macht!
 
179 
Starr stand das Kind, doch wie?s vernahm
180 
den Stundenschlag, zu sich es kam
181 
und wirft sich nieder auf den Stein
182 
und faltet fromm die Hände klein
183 
und betet: "Liebes Christkind du!
184 
Hör gnädig der armen Mary zu,
185 
die Mutter sagt, so ist?s auch wahr,
186 
du kämst zu uns Kindern Jahr für Jahr,
187 
du gingst vorbei an der Schlimmen Haus,
188 
den Frommen teiltest du Gaben aus,
189 
so bitt? ich denn, vergiß nicht mein,
190 
Christkind in deinem Strahlenschein,
191 
und weil dies Jahr ich nichts bekommen,
192 
und war doch eines von den Frommen,
193 
so bitt? ich dich, gewähre mir
194 
nur ein paar Schläge der Glocke hier,
195 
daß mir die Mutter am Leben bleib?
196 
und neu sich stärk? ihr siecher Leib,
197 
Gewähr? der armen Mary dies,
198 
ich heiß ja, wie deine Mutter hieß!"
 
199 
Und spricht?s, und heiß vom Antlitz rinnt
200 
ein Tränenstrom dem armen Kind,
201 
und eh? im Dorf noch der zwölfte Schlag
202 
verkündet einen neuen Tag,
203 
da plötzlich regt sich?s,
204 
da horch, bewegt sich?s,
205 
da schwingt sich?s im Kreise,
206 
da schallet leise
207 
ein Schlag, noch einer und noch mehr,
208 
da läutet die Glocke von Innisfare!
209 
Das tat der Sturm nicht, des rohe Macht
210 
dahintobt brausend durch die Nacht,
211 
das ist der Herr, der Gewährung nickt
212 
dem Kind, das gläubig aufwärts blickt,
213 
und wie hinaus über Berg und Wald
214 
mit mächt?gem Ruf die Glocke schallt,
215 
da mischt sich dem Kind wie Engelsang
216 
der Mutter Stimme in ihren Klang.
217 
Gerettet! weht?s ihm von ferne her
218 
ins Geläute der Glocke von Innisfare.

Details zum Gedicht „Die Glocke von Innisfare“

Anzahl Strophen
13
Anzahl Verse
218
Anzahl Wörter
1327
Entstehungsjahr
1806 - 1871
Epoche
Klassik,
Romantik,
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die Glocke von Innisfare“ wurde von Friedrich Halm verfasst, der von 1806 bis 1871 lebte. Das Gedicht entstammt damit dem 19. Jahrhundert und der Epoche des Biedermeier und des Realismus.

Beim ersten Lesen des Gedichts fällt auf, dass es sich um eine sehr lange Ballade mit vielen Strophen und Versen handelt. Es beschreibt auf dramatische und sehr anschauliche Weise ein Ereignis an einem Weihnachtsabend. Die Geschichte handelt von einem kleinen Mädchen namens Mary, deren Mutter schwer krank ist. Mary macht sich trotz eines starken Schneesturms auf den Weg zu einer Kirche, um das Glöcklein von Innisfare zu läuten, das angeblich Kranke heilen kann. Sie muss auf dem Weg zahlreiche Hindernisse überwinden und Gefahren trotzen, doch letztlich wird ihr Wunsch erfüllt und die Glocke läutet.

Die Aussage des lyrischen Ich ist hier, dass trotz aller Widrigkeiten und Entbehrungen immer Hoffnung besteht und man fest an seine Wünsche und Träume glauben soll. Die Form und Sprache des Gedichts unterstützen diese Botschaft. Die Sätze sind lang und detailreich, wodurch die dramatische Handlung betont wird. Die verschiedenen Reime und das regelmäßige Metrum tragen ebenfalls zur Dramaturgie bei und steigern das Spannungselement. Das Gedicht ist sehr visuell geschrieben, was das Kopfkino des Lesers anregt und die Emotionen verstärkt.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass „Die Glocke von Innisfare“ eine herzerwärmende und hoffnungsvolle Ballade ist, die zeigt, dass man immer an seine Träume glauben sollte, egal wie schwierig die Umstände auch sind. Auch wenn das Gedicht aus dem 19. Jahrhundert stammt, hat seine Botschaft bis heute nichts an Aktualität eingebüßt.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Die Glocke von Innisfare“ ist Friedrich Halm. Der Autor Friedrich Halm wurde 1806 in Krakau geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1822 und 1871. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Klassik, Romantik, Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz oder Realismus zu. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Basis geschehen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben bei Verwendung. Das vorliegende Gedicht umfasst 1327 Wörter. Es baut sich aus 13 Strophen auf und besteht aus 218 Versen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Friedrich Halm sind „Mein Herz, ich will dich fragen“ und „Am Meer“. Zum Autor des Gedichtes „Die Glocke von Innisfare“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de keine weiteren Gedichte vor.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Weitere Gedichte des Autors Friedrich Halm (Infos zum Autor)