Sestine der Sehnsucht von Rudolf Borchardt

Aus einem Fenster bog ich mich hinaus
auf Nacht und Gärten, wo kein Vogel singt;
ich fing den schweren Ton, der in mir schwingt
bei allem Wunder, das schön träumen macht;
bei mir war Nacht und über dir war Nacht,
mein Haus weiß jeden Stern von deinem Haus.
 
So schön wie schwere Träume ist mein Haus,
auf ewige Gärten legt es sich hinaus,
von grauem Mondlicht trunken und von Nacht
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saugt es den Ton, den es sich selber singt,
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und Büsche, die der Wind melodisch macht,
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und Wind, der durch die finsteren Fenster schwingt.
 
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Von dir den Ton, der durch den Wind hin schwingt,
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mein Herz weiß ihn, und so weiß ihn mein Haus:
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Was schwellen macht und was aufschreien macht,
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schwirrt durch ihn hin und reißt mich so hinaus,
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wie nichts hinreißen kann, was dunkel singt,
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schluchzend und tief tief jubelnd durch die Nacht.
 
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Also voll ist mein Haus von dir bei Nacht:
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Mit Tanz von dir, der durch die Kammern schwingt
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mit einer Geige, die sich lang aussingt -
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auf die Nachtwiesen wirft mein schweres Haus
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ausbrechende Musik von dir hinaus,
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und weiß vom Morgen nicht, der schauern macht.
 
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Nacht über Nacht! Und Dunkel, das sie macht!
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So schlief mein Herz im runden Busch der Nacht!
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So, sternedurstig, wagt es sich hinaus
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und fasst sich nicht, und zittert noch, und schwingt
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sich dunkel rufend vor dein fremdes Haus
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und singt in allen Schall, der drinnen singt -
 
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o um ein Lied, das sich in Worten singt!
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Nur Melodie, die Seele zu sich macht,
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Weinen und Lachen wandert durch Dein Haus!
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Und wirft sich her, Antwort durch dunkle Nacht -
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nichts als ein Flügel, der aufhebt und schwingt,
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nichts als "Hinaus"! und "Hin!" und nur "Hinaus!"
 
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Süße, dies Lied will über sich hinaus,
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ein Kind ist so, das sich die Angst fortsingt -
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durch schwere Nacht verschollener Gärten schwingt
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so tödliches Wirbeln, das die Luft stehen macht!
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Ein wonniger Vogel singt in deine Nacht,
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ein Kind fällt hin, und schläft vor deinem Haus.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.2 KB)

Details zum Gedicht „Sestine der Sehnsucht“

Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
42
Anzahl Wörter
334
Entstehungsjahr
1877 - 1945
Epoche
Naturalismus,
Moderne,
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Sestine der Sehnsucht“ des Autors Rudolf Borchardt. Im Jahr 1877 wurde Borchardt in Königsberg geboren. Im Zeitraum zwischen 1893 und 1945 ist das Gedicht entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Naturalismus, Moderne, Expressionismus, Avantgarde / Dadaismus, Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit, Exilliteratur oder Nachkriegsliteratur kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit der Zuordnung. Die Auswahl der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und muss daher nicht unbedingt richtig sein. Das Gedicht besteht aus 42 Versen mit insgesamt 7 Strophen und umfasst dabei 334 Worte. Weitere Werke des Dichters Rudolf Borchardt sind „Melusinens Lied“. Zum Autor des Gedichtes „Sestine der Sehnsucht“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de keine weiteren Gedichte vor.

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