Die wahre Tugend von Franz Grillparzer

Es lebt einmal in niedrer Hütte
Ein Klausner im Ardennerwald,
Von dessen Ruhm und strenger Sitte
Ringsum das ganze Land erschallt'.
 
Er betete bei Nacht und Tage,
Sein Mahl bestand aus schlechtem Brot,
Er rettete, so geht die Sage,
Gar oft das Land aus Pest und Not.
 
Einst, als ein Frost aus rauhen Lüften
10 
Sich niedersenkt' auf die Natur,
11 
Drückt Mißwachs die erstorbnen Triften,
12 
Und Mangel jede Kreatur.
 
13 
Und auch des Eremiten Schwelle
14 
Verschont der grause Hunger nicht,
15 
Er grinst auch in die enge Zelle
16 
Mit abgezehrtem Angesicht.
 
17 
Der Alte lenkt nach jenen Hütten,
18 
Die ihn gepflegt, den matten Lauf,
19 
Doch plötzlich hält in seinen Schritten
20 
Ihn Hunger und Ermattung auf.
 
21 
Von Froste starren seine Glieder,
22 
An eine nahe Eiche lehnt
23 
Er seinen Leib und stürzet nieder
24 
Und ächzet an der Erd und stöhnt.
 
25 
Doch sieh! Mit gräßlicher Gebärde
26 
Naht nun ein Weib, hört sein Geschrei,
27 
Erblickt den Armen auf der Erde
28 
Und eilet schnell zu Hilf herbei.
 
29 
Der Alte stöhnt: Ach, hab Erbarmen!
30 
Nur einen kleinen Bissen Brot!
31 
Es ist der letzte, in mir Armen
32 
Wühlt schon der martervollste Tod.
 
33 
Ich, Armer, sollte Brot dir geben?
34 
Ruft sie, von herben Tränen schwer
35 
Rollt hier ihr Blick, bei meinem Leben!
36 
Ich habe nur dies Stückchen mehr.
 
37 
Mit diesem will ich mich noch laben,
38 
Das Totenmahl soll es mir sein.
39 
Doch, Alter, nein, du sollst es haben,
40 
Hier, Lieber! Nimm es, es ist dein!
 
41 
Ihr Busen pocht in lauten Schlägen,
42 
Und mit verzweiflungsvollem Sinn
43 
Schreit sie: Ach, gib mir deinen Segen,
44 
Hier ist das Brot, ach, nimm es hin!
 
45 
Er nimmts und nässet es mit Tränen,
46 
Ich Sünder soll dich segnen? - dich?
47 
O, rufet er mit leisem Stöhnen,
48 
Weib, du bist heiliger als ich!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.3 KB)

Details zum Gedicht „Die wahre Tugend“

Anzahl Strophen
12
Anzahl Verse
48
Anzahl Wörter
284
Entstehungsjahr
1806
Epoche
Biedermeier,
Realismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die wahre Tugend“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Franz Grillparzer. 1791 wurde Grillparzer in Wien geboren. Im Jahr 1806 ist das Gedicht entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Biedermeier oder Realismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Der Schriftsteller Grillparzer ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen. Das Gedicht besteht aus 48 Versen mit insgesamt 12 Strophen und umfasst dabei 284 Worte. Franz Grillparzer ist auch der Autor für Gedichte wie „Der Wunderbrunnen“, „Entsagung“ und „Vorzeichen“. Zum Autor des Gedichtes „Die wahre Tugend“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 300 Gedichte vor.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Fertige Biographien und Interpretationen, Analysen oder Zusammenfassungen zu Werken des Autors Franz Grillparzer

Wir haben in unserem Hausaufgaben- und Referate-Archiv weitere Informationen zu Franz Grillparzer und seinem Gedicht „Die wahre Tugend“ zusammengestellt. Diese Dokumente könnten Dich interessieren.

Weitere Gedichte des Autors Franz Grillparzer (Infos zum Autor)

Zum Autor Franz Grillparzer sind auf abi-pur.de 300 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.