Die wahre Tugend von Franz Grillparzer
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Es lebt einmal in niedrer Hütte |
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Ein Klausner im Ardennerwald, |
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Von dessen Ruhm und strenger Sitte |
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Ringsum das ganze Land erschallt'. |
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Er betete bei Nacht und Tage, |
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Sein Mahl bestand aus schlechtem Brot, |
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Er rettete, so geht die Sage, |
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Gar oft das Land aus Pest und Not. |
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Einst, als ein Frost aus rauhen Lüften |
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Sich niedersenkt' auf die Natur, |
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Drückt Mißwachs die erstorbnen Triften, |
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Und Mangel jede Kreatur. |
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Und auch des Eremiten Schwelle |
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Verschont der grause Hunger nicht, |
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Er grinst auch in die enge Zelle |
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Mit abgezehrtem Angesicht. |
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Der Alte lenkt nach jenen Hütten, |
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Die ihn gepflegt, den matten Lauf, |
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Doch plötzlich hält in seinen Schritten |
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Ihn Hunger und Ermattung auf. |
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Von Froste starren seine Glieder, |
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An eine nahe Eiche lehnt |
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Er seinen Leib und stürzet nieder |
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Und ächzet an der Erd und stöhnt. |
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Doch sieh! Mit gräßlicher Gebärde |
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Naht nun ein Weib, hört sein Geschrei, |
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Erblickt den Armen auf der Erde |
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Und eilet schnell zu Hilf herbei. |
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Der Alte stöhnt: Ach, hab Erbarmen! |
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Nur einen kleinen Bissen Brot! |
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Es ist der letzte, in mir Armen |
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Wühlt schon der martervollste Tod. |
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Ich, Armer, sollte Brot dir geben? |
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Ruft sie, von herben Tränen schwer |
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Rollt hier ihr Blick, bei meinem Leben! |
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Ich habe nur dies Stückchen mehr. |
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Mit diesem will ich mich noch laben, |
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Das Totenmahl soll es mir sein. |
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Doch, Alter, nein, du sollst es haben, |
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Hier, Lieber! Nimm es, es ist dein! |
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Ihr Busen pocht in lauten Schlägen, |
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Und mit verzweiflungsvollem Sinn |
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Schreit sie: Ach, gib mir deinen Segen, |
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Hier ist das Brot, ach, nimm es hin! |
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Er nimmts und nässet es mit Tränen, |
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Ich Sünder soll dich segnen? - dich? |
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O, rufet er mit leisem Stöhnen, |
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Weib, du bist heiliger als ich! |
Details zum Gedicht „Die wahre Tugend“
Franz Grillparzer
12
48
284
1806
Biedermeier,
Realismus
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „Die wahre Tugend“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Franz Grillparzer. 1791 wurde Grillparzer in Wien geboren. Im Jahr 1806 ist das Gedicht entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Biedermeier oder Realismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Der Schriftsteller Grillparzer ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen. Das Gedicht besteht aus 48 Versen mit insgesamt 12 Strophen und umfasst dabei 284 Worte. Franz Grillparzer ist auch der Autor für Gedichte wie „Der Wunderbrunnen“, „Entsagung“ und „Vorzeichen“. Zum Autor des Gedichtes „Die wahre Tugend“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 300 Gedichte vor.
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