Warschau von Franz Grillparzer

So bist du denn gefallen, Stadt der Ehre,
Des Heldensinnes letzter Zufluchtsort?
Wo Männerfreiheit nicht mit Satz und Lehre,
Mit Schwertern focht, statt mit dem hohlen Wort.
 
Bist du gefallen? und die Schar der Zungen,
Zu Meinungsstreit allein noch reg und frisch,
Bringt plappernd dir die letzten Huldigungen
Und setzt sich drauf an des Ministers Tisch.
 
Was glaubtest du auch, Stadt der edlen Toren,
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Die Welt, sie nehme Teil an deiner wahren Not?
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Als neuerer Lukulle Gladiatoren,
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Genoß man euern Sieg, genießt man euern Tod.
 
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Als jüngst ein Volk, die Kohle sonstger Feuer,
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Halb katzenhaft nach seinem Herrn gekrallt,
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Da griff ein König selbst in seine Leier,
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Und ein Despot rief ihrem Dränger: Halt!
 
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Da sah man eine Welt in Harnisch gehen,
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So Ost als West nahm Teil am edlen Streit;
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Doch damals galts Ruinen, Propyläen,
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Erinnrungen erinnert schöner Zeit,
 
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Man hatte schulweis den Homer gelesen
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Und hieß gebildet, weil man da geweint;
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Der Polen Not war leiblich wahres Wesen,
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Die kein Äon mit Abendrot bescheint.
 
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Auch mochte dort man hilfreich sich erweisen,
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Der eigne Vorteil blieb geschützt, bewahrt;
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Kaum kniff ins eigne Fleisch das Rettungseisen,
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Da ließ mit eins der Mut von seiner Art.
 
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O Frankreich, Frankreich! konntest du verkennen
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Den Platz, auf den ein Gott dich hingestellt?
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Bist stolz, der Freiheit Bräutgam dich zu nennen,
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Und zeugst mit ihr nicht Kinder für die Welt?
 
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O schau! viel klüger sind sie, die dich hassen;
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Ihr Werk scheint ihnen halb nur und von heut,
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Solang ein Fleck noch auf der Welt gelassen,
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Wo nicht ein Herr ob einem Knecht gebeut.
 
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Du rühmst dich deines Zwingherrn Überwinder,
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Den fremde Macht bis heute nie verließ?
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Auf Polens Flur erschlägt man Frankreichs Kinder,
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In Warschaus Angeln klirrt die Pforte von Paris.
 
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Und du, dem man den Namen ging zu holen
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Ins Land des Großen, kleiner Kasimir!
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Als dich der Vater nannte, dacht er: Polen!
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Dein Name bricht mit Polen über dir.
 
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Wärs Unbill gleich, dich unbegabt zu schelten,
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Ist klug gleich manches, was dein Klügeln schuf;
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Auf großen Bahnen kann nur Großes gelten,
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Klein ist, wer kleiner ist als sein Beruf.
 
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Ihr Briten, auf! es gilt Smyrneser Trauben,
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Oporto-Wein, Brabanter Linnen, auf!
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Frankreich will euern Freund Miguel berauben,
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Laßt zehn, laßt zwanzig Orlogschiffen Lauf!
 
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Ihr Brutuse mit Pfefferdüt und Elle,
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Gerecht nur gegen euch, und das nach filzger Norm!
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Schreit nicht das Volk an eurer eignen Schwelle?
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Es ruft nach Brot, und ihr gebt ihm Reform.
 
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War Warschau hingebaut am Meeresstrande,
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Und wüchse Zimmt, wo jetzt nur grüne Saat,
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Ihr fühltet mächtgere Verwandtschaftsbande,
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Und Polen stünde frei, ein Volk, ein Staat.
 
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Doch weil ihr, gleich dem Geizgen im Gedichte,
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Einäugig gern, wenn euer Feind nur blind,
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Ließt, daß kein Frank den blutgen Hader schlichte,
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Ihr Polens Staub hinwehen in den Wind.
 
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Und wolltet ihr das Land, vom Rhein durchflossen,
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Heimsuchen nicht mit Krieg, der immer hart,
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Warum mit euern Grenz- und Ruhmsgenossen
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Nach Stambul hin nicht lenken eure Fahrt?
 
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Dort konntet einem alten Freund ihr nützen,
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Und jeder Streich traf nur den grimmen Zar,
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Doch wechselt ihr das Herz mit euren Sitzen,
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Der Wollsack eurer Freiheit Hochaltar.
 
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Die aber in des Weltteils Mitte wohnen,
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Sind mild, ein Freiheit träumendes Geschlecht!
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Sie auch als Bettlerpfennig nehmend von den Thronen,
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Doch, wo ein Herr, ist auch der Deutsche Knecht.
 
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Die einen sind zu schwach, die andern - stille!
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Von diesen spreche nimmermehr ein Lied!
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Zum Guten fehlt nicht Macht, es fehlt der Wille,
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Das Auge fehlt, das frei nach außen sieht.
 
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Die Freiheit hassen sie, doch nicht alleine,
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Nicht mehr als all, was stammt vom ewgen Geist,
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Und atmend lebt im hellen Sonnenscheine,
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Was wärmt, erhebt, was denkt und unterweist.
 
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Dort tönt kein Wort durch späherwache Lüfte,
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Scheu kriecht das Denken in sich selbst zurück,
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Die Brust vernieten krummgebogne Stiffte,
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Und Gentzlich stumpf, gilt dort für ganzes Glück.
 
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Gleichwie in Dantes dunkeln Schauderorten
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Die Inschrift lehrt, daß da kein Rücktritt sei,
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Steh inschriftweis an dieses Landes Pforten
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Gemeinheit eingeprägt und Heuchelei.
 
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Dem Throne nah sitzt dort ein Mann seit Jahren,
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Die glatte Stirn im Venusdienst gebleicht,
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Dem Einfäll luftig durchs Gehirne fahren,
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Die ihm ein andrer auf Systeme zeucht;
 
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Und wenn der Zeitgeist durch die Macht der Schwere
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Zur Erde sinkt, der strahlend er entflog,
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So schwört der kleine Mann auf Wort und Ehre,
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Sein Gaukeln seis, das ihn hernieder zog.
 
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Wer lieber sich von Ebenbürtgen treten,
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Als mahnen lassen will vom mindern Mann,
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Wird fruchtlos zu der Menschheit Fest gebeten,
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Er war entschuldigt, eh es noch begann.
 
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Dir aber, Preußen, laß mich donnernd sprechen,
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Warum tust du nicht deiner Pflicht genug?
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Kaum wächst ja Brot auf deinen sandgen Flächen,
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Der Geist allein dein Acker und dein Pflug.
 
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Als dich der leider Einzge deiner Fritze
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Der Zahl zum Trotz, hoch zu den Sternen trug,
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Dacht er dich stets auch an der Bildung Spitze,
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Stoff gegen Stoff, zerbricht der schwächre Krug.
 
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Und wars dein Volk nicht, das dich rückerstritten,
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Als du gestellt dich an des Abgrunds Bord?
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Warum nun zittern in des Volkes Mitten,
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Das Dasein betteln von dem eisgen Nord?
 
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Lebst etwa du in der Erinnrung Räumen,
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Wie damals, als dein Junkerheer zerschmolz?
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Ein gleich Erwachen harret gleichen Träumen,
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Ein Jena liegt, wo Dünkel steht und Stolz.
 
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Sie aber hören nicht, sind nicht zu retten!
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Die Niederung vermählt sich gern dem Sumpf;
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Barbarsche Könige in goldnen Ketten,
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Dünkt ihnen schön ein russischer Triumph.
 
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Du aber, Freiheit, die der Frühlingsmorgen
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Hervorrief aus dem eisumschloßnen Grab,
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Die Sonne hat von neuem sich verborgen,
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Steig wieder nur zur kalten Gruft hinab.
 
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Doch hüte dich, zu fest, zu lang zu schlafen,
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Hat ja kein Winter ewig noch gethront,
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Und wenn im Mai erst laue Strahlen trafen,
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Kömmt Juli auch, der holde Erntemond.

Details zum Gedicht „Warschau“

Anzahl Strophen
33
Anzahl Verse
132
Anzahl Wörter
943
Entstehungsjahr
1791 - 1872
Epoche
Biedermeier,
Realismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Warschau“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Franz Grillparzer. Der Autor Franz Grillparzer wurde 1791 in Wien geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1807 und 1872. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Biedermeier oder Realismus zu. Der Schriftsteller Grillparzer ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen. Das vorliegende Gedicht umfasst 943 Wörter. Es baut sich aus 33 Strophen auf und besteht aus 132 Versen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Franz Grillparzer sind „Am Hügel“, „Am Morgen nach einem Sturm“ und „An einen Freund“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Warschau“ weitere 300 Gedichte vor.

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