Abschied von Otto Julius Bierbaum

Nun schließ ich dich, mein liebes Hausthor, zu,
Und niemals wieder freut mein Auge sich
Am alten Schnitzwerk, deinem heitern Schmuck,
Dem Rebenbogen mit der Traubenlast,
Und niemals wieder öffn' ich Dich, mein Thor,
Um in das schöne alte Haus zu gehn,
Das meinem Glück die letzte Heimat war.
 
Die letzte Heimat, - und nun geh ich fort,
Beschmutzt von Falschheit, innerlichst verletzt
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Von lügnerischer Tücke, die mich frech
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Viel Jahre lang im holden Tänzerkleid
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Verliebter Anmut narrte, und ich weiß,
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Daß all mein Glück ein leeres Träumen war.
 
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Oh Spuk und Schmach! Die Seele schäumt von Haß,
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Denkt sie an dieses abgefeimte Spiel
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Schamloser Niedrigkeit; - hier, hier geschahs,
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Das schmutzig Feige, - ach, mein schönes Haus,
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Daß ich an dich nicht rein mehr denken kann.
 
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Am alten Marmortische sitz ich hin
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Und hör den Brunnen rauschen, überweht
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Von meiner Trauerweide Fallgezweig.
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Halboffen ist die Gartenthür; da stehn
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Die Lilienstauden leer, der Epheu glänzt,
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Der nie sein Grün verliert, doch wohnen jetzt
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Die schnellen Amseln nicht mehr im Geäst
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Des hundertjährigen. - Käm ein Windstoß doch
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Und schlüg die Thüre zu! Ich, sehe sonst,
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Was ich nicht sehen will: ein rotes Kleid,
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Ein rotes ... horch, es klingt ein Lied herauf,
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Vom Garten her, wo die Cypresse steht ...
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Ich wills nicht hören, ich bin taub dem Ton,
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Ich schreie laut, ich will das Lied nicht, - ach,
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Es überklingt den allerlautsten Schrei -:
 
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Blinzt der Morgen in die Thür,
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Steht mein Liebster dafür,
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Mein Liebster, der war im Garten.
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Ist mit der Sonne aufgewacht,
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Und hat an mich, an mich gedacht
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Und an die Rosen, die da blühn
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Heißa blühn,
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Die Rosen blühn im Garten.
 
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Meinen Liebsten und den Sonnenschein
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Laß ich in die Kammer ein,
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In meinen Rosengarten.
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Da sind auch Rosen aufgewacht,
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Als ich an dich, an dich gedacht,
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Viel schönre, als da draußen blühn,
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Heißa blühn,
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Die Rosen blühn im Garten.
 
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Der letzte Spuk ... Nein, Herz, es war nicht not,
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Zu schrein und taub zu sein, - das fliegt vorbei
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Wie Spätherbstfäden, - glänzt und fliegt vorbei.
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Darin verfängt sich kein Gedanke mehr.
 
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Und ich muß lächeln. Warum schalt ich denn?
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Oh undankbares Herz, oh dumpfer Sinn!
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Das alles war so schön und wunderbar,
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Daß nichts als Dank sich ziemt. Was red ich schlecht
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Von schönen Träumen? Pfui, was red ich schlecht
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Von dir, mein Herz, das alles dies geträumt?
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Du, Herz, beschiltst dich? Ach, du dummes Herz,
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Du hast nichts besseres mir je beschert,
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Als diesen Traum, und, daß er jäh verging,
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Mich dünkt, auch das war gut, denn seine Zeit
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Hat alles, und für uns, mein altes Herz,
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Ist nun die Zeit des Träumens wohl vorbei.
 
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Sieh doch, wie hell ist dieser Herbst; ein Glanz
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Von Klarheit breitet sich geruhig her:
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Mir scheint, ich wachte auf zur rechten Zeit.
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Zwar geht mein Schritt unsicher in den Tag,
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Und allzu oft wohl schau ich mich noch um,
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Doch denk ich: bald ist mir das Licht vertraut,
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Und, wenn ich rückwärts blicke, ist es nicht
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Mit Augen, die voll Sehnsucht traurig sind.
 
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Vorwärts, mein Herz! Du hast sehr schön geträumt,
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Nun sei dem Tage stark. Es giebt ein Glück,
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Das du nicht selber zu erdichten brauchst.
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Nicht alles ist Komödie auf der Welt,
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Und Liebe giebt es, die nicht Irrtum ist.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30.5 KB)

Details zum Gedicht „Abschied“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
78
Anzahl Wörter
544
Entstehungsjahr
1865 - 1910
Epoche
Realismus,
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Abschied“ des Autors Otto Julius Bierbaum. Im Jahr 1865 wurde Bierbaum in Grünberg in Niederschlesien geboren. Im Zeitraum zwischen 1881 und 1910 ist das Gedicht entstanden. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Realismus, Naturalismus, Moderne oder Expressionismus zugeordnet werden. Bei Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit der Zuordnung. Die Auswahl der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und muss daher nicht unbedingt richtig sein. Das Gedicht besteht aus 78 Versen mit insgesamt 10 Strophen und umfasst dabei 544 Worte. Weitere bekannte Gedichte des Autors Otto Julius Bierbaum sind „Meines Vaters Uhr“, „Reimkarussell“ und „Als die Kerze verlosch“. Zum Autor des Gedichtes „Abschied“ haben wir auf abi-pur.de weitere 354 Gedichte veröffentlicht.

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