Bellevue von Detlev von Liliencron

Ich ritt und ritt, ich trabte zu,
durch eine schwere Waldesruh,
und hügelaufwärts ging mein Steg,
und dick verhangen war mein Weg,
in Nadelschwarz und Zweigen
hing dumpf und stumpf das Schweigen.
 
Die Stute fängt zu klettern an,
sie nießt und prustet, was sie kann,
die Flanke fliegt von ihrem Fleiß,
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am Sattelgurte steht der Schweiß,
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Ich hätschle ihr die Mähne,
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die rotgeflochtne Strähne.
 
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Es weht ein frischer Wind woher,
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kommt nackter Fels, kommt offnes Meer,
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die Stute wirft die Stirn empor,
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die Nüster zieht, sie spitzt das Ohr.
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Mein Tier laß ab vom Laufen,
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nun sollst du dich verschnaufen.
 
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Und rechts und links, Hazard, Husar,
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begleitet mich mein Pointerpaar,
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die Zunge tropft, die Zunge hängt
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und ihre Fahnen sind gesenkt.
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Auf Jagd und jeder Fährte
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Gesellen, treu bewährte.
 
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Da öffnet plötzlich sich der Wald,
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und eine Brise, kräftig, kalt,
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empfängt uns wie Bewillkommsgruß,
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halt an, es stutzen Huf und Fuß:
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Vor mir und meinem Pferde
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dehnt sich die weite Erde.
 
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Die ganze Erde, klar und nah,
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lag unten ausgebreitet da,
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und dennoch fern wie Weltenschluß,
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als säh ich sie von Uranus.
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Vor Grausen und Entzücken
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will Wahnsinn mich berücken.
 
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Ich schlage schreckhaft Hand auf Hand,
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an Hals und Widerrist gebannt,
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die Stute kaut auf Stang und Zaum
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und schleudert ungestüm den Schaum.
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Die Pointer ruhn gleich Toten,
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Kopf auf den Vorderpfoten.
 
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Tief unten, tief im Sonnenlicht
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seh ich ein himmlisches Gedicht:
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von Pol zu Pol schläft jede Wehr,
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kein einziger schnitzt noch Pfeil und Speer,
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zu ewigem Völkerfrieden
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hat alles sich beschieden.
 
49 
Es dunkelt; Qualm, zuerst ein Hauch,
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schon loht die Flamme aus dem Rauch,
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das Feuer springt von Land zu Land,
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die Wolken röten sich vom Brand,
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vier böse Rosse stampfen
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und alle Länder dampfen.
 
55 
Ich hörs herauf, die Balgerei
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und wüstes Parlamentsgeschrei;
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der ruft: Ich hab alleine Recht,
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ich bin der Herr, du bist mein Knecht,
59 
der andre brüllt dawider
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und stößt ihn wütend nieder.
 
61 
Zuweilen aus dem Kampfgewühl
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ragt einer auf voll Mitgefühl,
63 
beschwichtigt hier und segnet dort
64 
und predigt gegen Mars und Mord.
65 
Ihm wird dafür bescheinigt,
66 
er wird zum Dank gesteinigt.
 
67 
Zuweilen schießt ein Stern herab,
68 
in eines Menschen Brust hinab:
69 
ob durch Verstand, ob durch sein Schwert,
70 
zuerst verlacht, dann gottverehrt
71 
führt das Genie die Menge,
72 
des Lebens Schlachtgedränge.
 
73 
Zuweilen schießt ein Stern herab,
74 
in eines Menschen Brust hinab:
75 
ein Dichter, der der Zukunft zollt,
76 
ein mächtger Künstler gräbt sein Gold.
77 
Zahllos sind ihm die Feinde,
78 
klein zählt ihm die Gemeinde.
 
79 
Ich sah dem großen Trauerspiel
80 
versteinert zu, bis mirs zuviel,
81 
nach Liebe zuckt und zagt mein Herz,
82 
ist alles Neid und Haß und Schmerz?
83 
Mir wird so weh zumute,
84 
ich wende meine Stute.
 
85 
Und reit auf einen Tempel hin,
86 
wo nur ein einzig Zellchen drin,
87 
und sitze ab und sorge hier
88 
zuvörderst für mein treu Getier,
89 
laß dann den Schritt verschallen
90 
sacht in den leeren Hallen.
 
91 
Und bleibe nun für mich allein,
92 
Einsiedler will ich fürder sein,
93 
und nichts mehr sehn von dieser Welt,
94 
wo die Gerechtigkeit zerschellt.
95 
Es brodelt in den Tiefen,
96 
und Gottes Engel schliefen.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (31.1 KB)

Details zum Gedicht „Bellevue“

Anzahl Strophen
16
Anzahl Verse
96
Anzahl Wörter
505
Entstehungsjahr
1844 - 1909
Epoche
Naturalismus

Gedicht-Analyse

„Gedicht: Bellevue“ wurde von Detlev von Liliencron verfasst und lässt sich zeitlich der Geschichtsepoche des Realismus (circa Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts) zuordnen.

Auf den ersten Blick scheint das lyrische Ich eine Reise durch eine weglose Waldlandschaft zu unternehmen, die sowohl von körperlichen als auch geistigen Anstrengungen geprägt ist. Mit fortschreitender Handlung finden wir uns in einer hohen Position wieder, die einen umfassenden Blick auf die Welt erlaubt. Dieser Blick des lyrischen Ichs auf die Welt enthüllt eine Menge von menschlichen Beziehungen und Verhaltensweisen, welche in den einzelnen Strophen dargestellt werden. Es geht um Konflikt, Streit, Neid, Hass und Schmerz, wie auch um das Leuchten von Ausnahmegestalten, die als Führer oder Künstler hervortreten. Schließlich scheint das lyrische Ich von der Welt enttäuscht und wendet sich in eine spirituelle Richtung, indem es sein Leben als Einsiedler beginnt.

Das Gedicht besteht aus 16 Strophen, jede mit 6 Versen. Es macht reichlich Gebrauch von anschaulichen und ausdrucksstarken Metaphern und Vergleichen, und die Verwendung von Endreimen schafft einen Rhythmus, der das Lesen und Verstehen erleichtert. Das Gedicht verwendet detailreiche Naturbeschreibungen, andere Strophen sind dagegen metaphorisch und hasserfüllt, wobei das lyrische Ich die Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit der Welt beklagt. Der Stil des Gedichts ist relativ klar und direkt, mit einer Mischung aus persönlicher Erzählung und philosophischer Betrachtung der Welt, sowie einer Wendung hin zu Spiritualität und Einsiedelei am Ende.

Insgesamt wirft das Gedicht viele Fragen über die Beziehung des Menschen zur Welt und zur Spiritualität auf und regt zum Nachdenken über Gerechtigkeit, Leadership und Kunst an. Das lyrische Ich scheint die Welt durch eine kritische Linse zu betrachten, aber auch einen tiefen Wunsch nach besserem Verständnis und Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Bellevue“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Detlev von Liliencron. Liliencron wurde im Jahr 1844 in Kiel geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1860 und 1909. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Naturalismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei dem Schriftsteller Liliencron handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 505 Wörter. Es baut sich aus 16 Strophen auf und besteht aus 96 Versen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Detlev von Liliencron sind „Der Blitzzug“, „König Regnar Codbrog“ und „Die Musik kommt“. Zum Autor des Gedichtes „Bellevue“ haben wir auf abi-pur.de weitere 63 Gedichte veröffentlicht.

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