Eines Morgens von Betty Paoli

An's Fenster rückt' ich meinen Tisch
Und wollte weise Dinge schreiben,
Doch, eh' ich's dachte, sah ich frisch
Mein Blatt im Morgenwinde treiben.
 
Was liegt an einem Blatt Papier?
Leicht ist's, ein zweites zu bereiten!
Nun aber ließ die Sonne mir
Streiflichter blendend drüber gleiten.
 
Wie flogen sie so lustig hell
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Die Pfeile von dem gold'nen Bogen!
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Gleich einem Schilde ließ ich schnell
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Den grünen Vorhang niederwogen.
 
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Jetzt, meint' ich, jetzt wird Ruhe sein!
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Des Fleißes ernste Zeit beginne!
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So dacht' ich, still vergnügt, allein
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Bald ward ich meines Irrtums inne.
 
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Denn schmeichelnd und verlockend drang
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Durch Blättergrün und grünen Schleier
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Der Vögel Lied wie Festgesang,
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Wie eine freud'ge Liebesfeier.
 
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Was half es mir, daß ich mein Ohr
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Vom Lauschen suchte zu entwöhnen?
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Im Geiste hörte ich den Chor
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Der süßen Stimmen doch ertönen.
 
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Vergeblich sorgt' ich, daß sich nicht
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Der Sonne Schimmer zu mir stehle;
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Das ich von mir gebannt, das Licht,
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Ich schaut' es doch in meiner Seele.
 
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Da warf ich meine Feder hin!
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Nicht länger konnt' ich widerstreben,
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Gefangen war mir Herz und Sinn
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Ich mußte mich dem Lenz ergeben.
 
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Aus meinem Hause trieb mich's fort
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Auf waldgekrönte Bergeshöhen,
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Wo, wie ein mildes Segenswort,
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Die ahnungsvollen Lüfte wehen.
 
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Den heil'gen Stimmen horchend, saß
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Ich dort bis spät zum Abendlichte,
39 
Und meine trunkne Seele las
40 
In Gottes ewigem Gedichte!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.7 KB)

Details zum Gedicht „Eines Morgens“

Autor
Betty Paoli
Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
40
Anzahl Wörter
221
Entstehungsjahr
1814 - 1894
Epoche
Klassik,
Romantik,
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das hier vorliegende Gedicht wurde von der österreichischen Lyrikerin Betty Paoli verfasst, die im 19. Jahrhundert lebte und deren Werke dem Biedermeier und dem Realismus zuzuordnen sind.

Erster Eindruck: Dieses Gedicht berührt Themen wie Kreativität, Naturverbundenheit und Spiritualität. Es erscheint einfühlsam und ruhig, spiegelt jedoch auch eine Art inneren Konflikt wider.

Inhalt/Sinn: Das lyrische Ich stellt zu Beginn des Gedichts klar, dass es in der Absicht vor dem Fenster sitzt, ernsthafte und konzentrierte Schriftarbeit zu verrichten. Allerdings wird es immer wieder von den Schönheiten der Natur - vom Morgenwind, dem Sonnenlicht und dem Gesang der Vögel - abgelenkt. Trotz der anfänglichen Anstrengung und der Versuche, diese Ablenkungen zu ignorieren oder sich davon zu isolieren, gibt das lyrische Ich schließlich nach und lässt sich ganz und gar in diese Schönheit der Natur hineinziehen. Es offenbart sich eine Überzeugung von der Präsenz Gottes in der Natur und der eigenen Verbindung zu dieser.

Form und Sprache: Das Gedicht ist in zehn vierzeilige Strophen gegliedert und folgt keinem üblichen Reimschema. Es weist eine recht einfache und unprätentiöse Sprache auf, die es ermöglicht, die Botschaft klar zu verstehen. Es ist beachtenswert, wie spielerisch Paoli das Innere (das lyrische Ich und sein Vorhaben zu schreiben) und das Äußere (die Natur und ihre Ablenkungen) miteinander verknüpft.

Zusammenfassend kann das Gedicht als eine Reflexion über die Ablenkungen des Kreativprozesses und die Faszination beziehungsweise die mächtige Anziehungskraft der Natur gesehen werden. Es zeigt außerdem das Aufgeben eines geplanten Vorhabens und das Hingeben zu den Freuden der Natur, die letzten Endes fulfillment und Zufriedenheit bringen. Es drückt eine tiefe Ehrfurcht vor der Natur und die spirituelle Verbindung, die das lyrische Ich mit ihr verspürt, aus.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Eines Morgens“ der Autorin Betty Paoli. 1814 wurde Paoli in Wien geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1830 bis 1894 entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Klassik, Romantik, Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz, Realismus, Naturalismus oder Moderne kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten der Autorin vorgenommen werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Basis geschehen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben bei Verwendung. Das 221 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 40 Versen mit insgesamt 10 Strophen. Weitere bekannte Gedichte der Autorin Betty Paoli sind „Der Thräne Bürgschaft“, „Trost“ und „Nenne dich nicht einsam“. Auf abi-pur.de liegen zur Autorin des Gedichtes „Eines Morgens“ weitere 43 Gedichte vor.

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