Die Bilderbibel von Ferdinand Freiligrath
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Du Freund aus Kindertagen, |
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Du brauner Foliant, |
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Oft für mich aufgeschlagen |
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Von meiner Lieben Hand: |
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Du, dessen Bildergaben |
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Mich Schauenden ergötzten, |
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Den spielvergess'nen Knaben |
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Nach Morgenland versetzten: |
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Du schobst für mich die Riegel |
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Von ferner Zone Pforten, |
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Ein kleiner, reiner Spiegel |
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Von dem, was funkelt dorten! |
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Dir Dank! durch dich begrüßte |
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Mein Aug' eine fremde Welt, |
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Sah Palm', Kamel und Wüste, |
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Und Hirt und Hirtenzelt. |
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Da brachtest sie mir näher, |
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Die Weisen und die Helden, |
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Wovon begeisterte Seher |
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Im Buch der Bücher melden; |
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Die Mädchen, schön und bräutlich, |
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So ihre Worte schildern, |
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Ich sah sie alle deutlich |
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In deinen feinen Bildern. |
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Der Patriarchen Leben, |
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Die Einfalt ihrer Sitte, |
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Wie Engel sie umschweben |
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Auf jedem ihrer Schritte, |
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Ihr Ziehn und Herdentränken, |
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Das hab' ich oft gesehn, |
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Konnt' ich mit stillem Denken |
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Vor deinen Blättern stehn. |
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Mir ist, als lägst du prangend |
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Dort auf dem Stuhle wieder; |
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Als beugt' ich mich verlangend |
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Zu deinen Bildern nieder; |
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Als stände, was vor Jahren |
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Mein Auge staunend sah, |
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In frischen, wunderbaren, |
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Erneuten Farben da; |
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Als säh ich in grotesken, |
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Verworrenen Gestalten |
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Aufs neue die Moresken |
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Die bunten, mannigfalten, |
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Die jedes Bild umfaßten, |
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Bald Blumen, bald Gezweig, |
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Und zu dem Bilde paßten, |
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An sinn'ger Deutung reich! |
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Als trät' ich, wie vor Zeiten, |
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Zur Mutter bittend hin, |
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Daß sie mir sollte deuten |
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Jedweden Bildes Sinn; |
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Als lehrte zu jedem Bilde |
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Sie Sprüche mich und Lieder, |
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Als schaute sanft und milde |
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Der Vater auf uns nieder. |
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O Zeit, die bist vergangen! |
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Ein Märchen scheinst du mir! |
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Der Bilderbibel Prangen, |
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Das gläub'ge Aug' dafür, |
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Die teuren Eltern beide, |
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Der stillzufriedne Sinn, |
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Der Kindheit Lust und Freude |
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Alles dahin, dahin! |
Details zum Gedicht „Die Bilderbibel“
Ferdinand Freiligrath
8
64
270
1810 - 1876
Junges Deutschland & Vormärz
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „Die Bilderbibel“ wurde von Ferdinand Freiligrath verfasst, einem bekannten deutschen Dichter des 19. Jahrhunderts. Vergleicht man das Geburtsdatum des Dichters 1810 und das Todesdatum 1876, lässt sich das Gedicht zeitlich wahrscheinlich in die Mitte bis zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts einordnen.
Auf den ersten Blick entführt dieses Gedicht den Leser auf eine nostalgische Reise in die Kindheit des lyrischen Ichs. Dabei legt die Bezeichnung „Freund aus Kindertagen“ nahe, dass es sich bei dem „braunen Folianten“ um ein Kindheitsbuch handelt, speziell eine Bilderbibel, welches das lyrische Ich mit liebevoller Emotion in Erinnerung behält.
Inhaltlich ist das Gedicht eine Hommage an die Macht des Buches, die Fantasie anzuregen und Wissen zu vermitteln. Das lyrische Ich reflektiert, wie es durch das Buch zu exotischen Orten in der Ferne versetzt wurde und dadurch verschiedene Szenen, Personen und Tiere kennenlernte, die es als spielvergessenes Kind im Alltag nicht heimisch erleben konnte. Das Buch wird als „kleiner, reiner Spiegel“ betitelt, welcher den Lesern eine fremde, faszinierende Welt näherbrachte.
In gewisser Weise dokumentiert das Gedicht auch das Erwachsenwerden und den Verlust kindlicher Naivität. In den letzten Zeilen bringt das lyrische Ich seine Wehmut zum Ausdruck, dass diese Zeit der kindlichen Leichtigkeit und Unschuld vorbei ist. Der Verlust der Eltern wird angedeutet und mit dem Verlust des „stillzufriednen Sinns“ und der „Kindheit Lust und Freude“ assoziiert.
Sprachlich verwendet Freiligrath eine einfache, anschauliche Sprache, die reich an beschreibenden Elementen ist. Damit erzeugt er eine lebendige, sinnliche Atmosphäre, die die Bilder im Buch nachzeichnet. Die Form des Gedichts mit gleichmäßigen Strophen und geregeltem Versmaß unterstützt den gleichmäßigen, erzählerischen Ablauf des Gedichts.
Zusammengefasst reflektiert das Gedicht „Die Bilderbibel“ über die Macht von Büchern, die Fantasie zu beflügeln und Welten und Wissen zu eröffnen. Es drückt eine tiefe Nostalgie und Trauer über den Verlust der kindlichen Unschuld und der geliebten Eltern aus. In seiner einfachen Sprache und ruhigen Struktur ruft es zum Innehalten und Nachdenken auf.
Weitere Informationen
Das Gedicht „Die Bilderbibel“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Ferdinand Freiligrath. Im Jahr 1810 wurde Freiligrath in Detmold geboren. Im Zeitraum zwischen 1826 und 1876 ist das Gedicht entstanden. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Junges Deutschland & Vormärz zugeordnet werden. Der Schriftsteller Freiligrath ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das 270 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 64 Versen mit insgesamt 8 Strophen. Der Dichter Ferdinand Freiligrath ist auch der Autor für Gedichte wie „Eispalast“, „Freie Presse“ und „Springer“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Die Bilderbibel“ weitere 65 Gedichte vor.
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Zum Autor Ferdinand Freiligrath sind auf abi-pur.de 65 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
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