Gryphius, Andreas - Menschliches Elende (Gedichtinterpretation)

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Andreas Gryphius, Analyse, Sonett, Referat, Hausaufgabe, Gryphius, Andreas - Menschliches Elende (Gedichtinterpretation)
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Referat

Interpretation des Sonetts „Menschliches Elende“ von Andreas Gryphius

Menschliches Elende
von Andreas Gryphius

Was sind wir Menschen doch? ein Wohnhaus grimmer Schmertzen.
Ein Ball deß falschen Glücks / ein Irrlicht dieser Zeit.
Ein Schauplatz herber Angst / besetzt mit scharffem Leid /
Ein bald verschmeltzter Schnee und abgebrante Kertzen.
 
Diß Leben fleucht davon wie ein Geschwätz vnd Schertzen.
Die vor uns abgelegt deß schwachen Leibes Kleid
Und in das todten-Buch der grossen Sterbligkeit
Längst eingeschrieben sind / sind uns auß Sinn und Hertzen.
 
Gleich wie ein eitel Traum leicht auß der acht hinfällt /
10 
Und wie ein Strom verscheust / den keine Macht auffhält:
11 
So muß auch unser Nahm / Lob Ehr und Ruhm verschwinden /
 
12 
Was itzund Athem holt / muß mit der Lufft entflihn /
13 
Was nach uns kommen wird / wird uns ins Grab nach zihn
14 
Was sag ich? wir vergehn wie Rauch von starcken Winden.

(„Menschliches Elende“ von Andreas Gryphius ist auch in unserer Gedichtedatenbank zu finden. Dort findest Du auch weitere Gedichte des Autoren. Für die Analyse des Gedichtes bieten wir ein Arbeitsblatt als PDF (24.3 KB) zur Unterstützung an.)

Der Mensch sei ein leidendes, elend geplagtes Wesen, das ein hartes Leben auf der Erde fristet, letzten Endes aber spurlos aus dem Leben scheide. Alles Erreichte werde schließlich bedeutungslos.

Das menschliche Leben überhaupt sei nichts weiter als vom Winde schnell verwehter Rauch. Im Zeitalter des Barock keine seltene Ansicht. Und auch heute würden sicher überraschend viele Menschen diese Einstellung teilweise oder auch ganz teilen, denn geklagt wird von den Menschen eigentlich immer, über Stress, Burn-out, Kopfschmerzen und so weiter.

Mit dem Gedicht „Menschliches Elende“ liegt ein Sonett im Alexandrinerbaustil vor, das die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens beklagt. Der barocke Dichter Andreas Gryphius wurde ebenfalls schon früh vom Leid gezeichnet, allerdings hatte Leid damals noch eine andere Dimension. Früh verlor er seine Eltern, seine Jugend war von Krankheit geprägt. Auch er war ein Vertreter dieser Weltanschauung, aus seinem Sonett „Menschliches Elende“ stammen die einleitenden Thesen.

Andreas Gryphius wurde am 2. Oktober 1616 in Glogau, Schlesien geboren und verstarb am 16. Juli 1664 ebenfalls in Grogau. Gryphius war der jüngste Sohn des Archidiakons Paul Gryphius aus Glogau (heute Głogów, Polen) und dessen dritter Ehefrau Anna Erhard.

Gryphius thematisierte in seinen Tragödien und Gedichten das Leid und den moralischen Verfall während des Dreißigjährigen Krieges. Daneben findet sich in seinen Werken der wiederholte Hinweis auf Eitelkeit und Vergänglichkeit allen menschlichen Schaffens und Strebens – ein für die Epoche des Barock typisches Motiv der vanitas. Exemplarisch dafür ist das Gedicht „Es ist alles eitel“ von Gryphius.

In dem Sonett „Menschliches Elende“ richtet sich ein lyrisches Ich in einer appellativen, philosophisch-rationalen Rede an den Leser. Es versucht diesem seine Lebenseinstellung einzuimpfen und fordert absoluten Wahrheitsanspruch. Alle Mittel der Kunst einsetzend, von einer sehr starken Bildlichkeit über entsprechend stimmungserzeugende Adjektiven bis hin zu einer wohltemperierten Mischung aus rationalen Gedankengängen und Momenten äußerer Handlung, dürfte Gryphius damals den Leser tatsächlich für seine Weltsicht gewinnen können.

Gedanken und Überlegungen (Innere Handlung) dominieren das Sonett, da dadurch das menschliche Wesen charakterisiert wird. Momente äußerer Handlung beschreiben einen Veränderungsprozess in der Natur, der aber wiederum verwendet wird, um analog die Vergänglichkeit des Menschen zu veranschaulichen. Zusammenfassend betrachtet ist das Gedicht voller Gedankengänge.

Das Gedicht ist streng nach der von Martin Opitz festgelegten Sonettform gegliedert. Der 14-zeilige Text besteht aus zwei Quartetten, mit umarmendem Reim abba, und aus zwei Terzetten, die durch einen übergreifenden Reim (Schema ccd eed) verbunden sind. Andreas Gryphius bedient sich der französischen Sonettform, der in der Metrik streng der 6 hebige Jambus – auch Alexandriner genannt – mit normalerweise weiblicher Kadenz zugeordnet ist, d.h. pro Zeile werden 13 Silben gezählt. Das Sonett heißt übersetzt aus dem Italienischem (welches mit dem Endecassillabo arbeitet) Klinggedicht und nur die weibliche Kadenz fließt. Bei Gryphius’ Sonett enden alle b (Zeit, Leid, Kleid, Sterblichkeit), c (hinfällt, aufhält) und e (entfliehn, nachziehn) Verse auf eine männliche Kadenz und haben somit nur 12 Silben (alle anderen Zeilen enden auf weibliche Kadenz). Wer mehrere Sonette von Gryphius liest, wird feststellen, dass dies sein persönlicher Stil ist. Bei all seinen Sonetten enden die b, c und e Verse auf betonte Silbe. Ähnlich verhält es sich mit der Zäsur, die in seinen Sonettzeilen teilweise entweder an der dritten Hebung und in der kompletten Zeile fehlt, oder an einer anderen Hebung oder Senkung als der dritten sitzt (Vers 14).

In Vers eins des Gedichtes wird einleitend gefragt: „Was sind wir Menschen doch!“. Ganz auf diese Frage ist die Handlung der ersten Strophe ausgerichtet, das innere Wesen des Menschen allgemein wird charakterisiert, als „Wohnhaus grimmer Schmerzen“ (Vers 1), „Ball des falschen Glücks“ (Vers 2), „Schauplatz herber Angst“ (Vers 3), „bald verschmelzter Schnee“ (Vers 4).

Im zweiten Quartett geht Gryphius noch einen Schritt weiter, reflektierend darüber, wie schnell Verstorbene vergessen werden („Die […] / in das Totenbuch […] / Längst eingeschrieben sind, sind uns aus Sinn und Herzen.“, Vers 6-8), beweist er logisch, „dies Leben fleucht dahin wie ein Geschwätz und Scherzen“ (Vers 5), also hat letztendlich keinen tieferen Sinn, keine Bedeutung. Dies findet wieder Ausdruck in gedanklichen Ausführungen, die jedoch sehr allgemein gehalten werden („Dies Leben“, Vers 5, „Die vor uns abgelegt,…“, Vers 6).

Eine Steigerung noch ist im folgenden Terzett zu erkennen. Durch Momente äußerer Handlung, „wie ein Strom verscheußt, den keine Macht aufhält“ (Vers 10), wird wieder Gryphius‘ Gedankengang bestätigt, sogar weitergeführt: „So muss auch unser Nam, Lob, Ehr und Ruhm verschwinden.“ (Vers 11). Dieses Muster wird fortgesetzt in der letzten Strophe, wieder werden durch äußere Handlung innere Gedankengänge ergänzt und belegt „Was itzund Atem holt, muss mit der Luft entfliehen“ (Vers 12), also: „Wir vergehn, wie Rauch von starken Winden.“ (Vers 14)

Gryphius hat diese Mischung aus äußerlicher Handlung und innerer Gedankengänge sicherlich mit Bedacht gewählt. Glaubwürdig, da logisch an äußerlichen Vorgängen belegt, kann er seine Gedanken als allgemeingültig fingieren. Der Leser stimmt seiner Charakterisierung des Menschen zu.

Seine große Tragweite und Allgemeingültigkeit erhält das Gedicht auch durch direkte Ansprache des Lesers und ein in der wir-Situation aufgehendes, appellatives lyrisches Ich. Der Leser wird in die Kommunikation mit einbezogen, in einer philosophisch-rationalen Rede legt das lyrische Ich seine Sicht des Menschen dar.

Gleich zu Anfang wirft Gryphius eine der größten philosophischen Fragen überhaupt auf, die Frage, was wir Menschen eigentlich sind. Doch er stellt sie nicht offen, sondern formuliert sie viel mehr als empörten Ausruf „Was sind wir Menschen doch!“ (Vers 1). Dies impliziert von vorneherein, dass er selbst die Antwort auf diese Frage kennt. Appellativ wird der Leser mit einbezogen („wir“), Gryphius weiß also auch über Sinn und Leben des Lesers Bescheid. Das lyrische Ich selbst hat keinen persönlichen Auftritt. Es geht auf in der Vereinigung und Verallgemeinerung der angesprochenen Masse aller Menschen, stellt sich selbst erst im letzten Vers heraus.

Eine solche Verbrüderung mit dem Leser, auch wenn sie diesem gewissermaßen aufgezwungen wird, fördert unterbewusst dessen Zustimmung. Das alles trägt außerdem auch dazu bei, dass das Sonett wie eine Rede anmutet. Als Redner bezieht sich das lyrische Ich mit ein, jedoch gibt es auch appellative Momente, „So muss auch unser Nam, Lob, Ehr und Ruhm verschwinden“ (Vers 11), die zeigen sollen, das lyrische Ich hat einen distanziert-differenzierten Blick auf die Thematik. Endgültig beendet wird die Rede schließlich mit dem Fazit-artigen Schlussgedanken „Wir vergehn, wie Rauch von starken Winden“ (Vers 14).

Mit diesem Sonett versucht Gryphius die Frage nach dem Sinn des Lebens zu beantworten, es hat hohen Wahrheitsanspruch. Ein lyrisches Ich, das als Mensch unter Menschen in einer Art rationalen, philosophischen Rede teilweise appellativ diese Frage beantwortet fördert diesen Wahrheitsanspruch noch, wirkt sehr überzeugend auf den Leser.

Zahlreiche Adjektive erzeugen anfangs eine düster-melancholische, bedeutungsschwere Stimmung. Da im Laufe des Gedichtes aber die Zahl der Adjektive abnimmt, resigniert das zuerst klagende lyrische Ich mehr und mehr. Es lehnt sich nicht gegen sein Schicksal auf, sondern akzeptiert dieses.

Die meisten Adjektive finden sich in der ersten Strophe. Es sind ausschließlich negative Adjektive, die in Verbindung mit entsprechenden Substantiven als Genitivobjekte positive Wörter ins Negative umkehren. „Ein Wohnhaus“, eigentlich Ort der Wärme und Geborgenheit wird beklemmend, bedrohlich einengend durch die Ergänzung „grimmer Schmerzen“ (Vers 1), genauso wird „Ein Ball“, Spielzeug fröhlicher Kinder, zu „Ein Ball des falschen Glücks“ (Vers 2), „ein Schauplatz“ wird düster mit „herber Angst“ (Vers 3). Diese äußerst melancholische, bedrohliche Stimmung erzeugt im modernen Leser wahrscheinlich erst einmal eine Diskrepanz und Ablehnung, jedoch entspricht sie der barocken Weltsicht und dürfte mit der des damaligen Lesers durchaus identifizierbar sein.

Strophe zwei und drei unterscheiden sich deutlich von der Ersten, die Sprache des lyrischen Ichs wirkt weniger emotional engagiert, es finden sich deutlich weniger Adjektive. Vielmehr wird durch aussagekräftige, starke Substantive („Totenbuch der großen Sterblichkeit“, Vers 7, „Sinn und Herzen“, Vers 8, „Nam, Lob, Ehr und Ruhm“ Vers 11) eine getragene, bedeutungsschwere Stimmung erzeugt. Zum Ende hin jedoch resigniert auch diese Stimmung, Sätze beginnen in Vers 12, 13 und 14 einheitlich mit „Was…“. So ist auch das Fazit, das das lyrische Ich im letzten Vers zieht ernüchternd rational, „Wir vergehn, wie Rauch von starken Winden“ (Vers 14), keine Empörung, keine Klage. Dieses Ende wird vom lyrischen Ich dargestellt als sicher und unabwendbar.

Das anfangs starke emotionale Engagement des lyrischen Ichs ebbt ab. Zum Ende hin fehlen illustrierende Adjektive. Ernüchtert ergibt sich das lyrische Ich scheinbar seinem Schicksal.

Die Stimmung eines Gedichtes ist immer auch sehr prägend auf die Wahrnehmung durch den Leser. Die Botschaft, dass am Ende alles nur Schall und Rauch war, wird unterstrichen durch das resignierende lyrische Ich, das dieses Schicksal hinnimmt.

Auffällig ist auch die sehr starke Bildlichkeit, die diesem Gedicht von Grund auf innewohnt. Dem Zweck der Anschaulichkeit dienend werden Vergleiche gezogen, wird an Metaphern nicht gespart. Der stark einbezogene Leser (siehe Kommunikation) wird so gebunden an das Gedicht, Spannung wird erzeugt auch durch eine Klimax.

Durch Metaphern wird in der ersten Strophe das menschliche Wesen charakterisiert. Menschen seien „Ein Wohnhaus grimmer Schmerzen“ (Vers 1), „Ein Ball des falschen Glücks“ (Vers 2), …, „Ein bald verschmelzter Schnee und abgebrannte Kerzen.“ (Vers 4). Die bildliche Sprache bringt dem Gedicht Schwung. Das lyrische Ich redet sich durch diese opulenten Formulierungen sozusagen warm, was natürlich gleichzeitig auch den Leser gut einstimmt auf das Kernthema des Gedichtes.

Wieder zeigt sich in der zweiten und dritten Strophe ein Unterschied; das lyrische Ich wirft nicht weiter mit mehr oder weniger bedeutungsschweren Metaphern um sich, sondern zieht beschreibende Vergleiche zur Präzision und Ausführung seiner „Thesen“, „Dies Leben fleucht davon wie ein Geschwätz und Scherzen“ (Vers 5), „Gleich wie ein eitel Traum leicht aus der Acht hinfällt / Und wie ein Strom verscheußt, den keine Macht aufhält, so muss auch […]“ (Vers 10-11). So wird Abstraktes sehr anschaulich und plastisch, sehr nachvollziehbar für den Leser.

Weniger gut zu verstehen ist die komplizierte, auf 3 Verse ausgedehnte Allegorie „Die vor uns abgelegt des schwachen Leibes Kleid / Und in das Totenbuch der großen Sterblichkeit / Längst eingeschrieben sind, […]“ (Vers 6-8) für die bereits verstorbenen Menschen. Man muss allerdings sagen, gerade so etwas verleiht einem Gedicht Tiefe und Poesie, genauso werden in Vers 12 und 13 Umschreibungen gefunden, für Lebewesen: „Was itzund Atem holt“ und für alle zukünftigen Lebewesen: „Was nach uns kommen wird“. In Vers 11 reiht das lyrische Ich Klimax-artig „Nam, Lob, Ehr und Ruhm“ aneinander, was zum einen die Spannung erhöht, zum anderen aber auch dem Gemeinten mehr Emphase verleiht.

Der letzte, der essenzielle Vergleich verbirgt sich in der letzten Strophe, „Wir [Menschen] vergehn, wie Rauch von starken Winden“ (Vers 14). Das gewählte Bild des vom Winde verblasenen Rauches ist tatsächlich so stark, dass es über einen gewöhnlichen Vergleich hinaus geht, das menschliche Wesen wird eigentlich Großteiles neu definiert.

In seiner Rede knüpft das lyrische Ich ein Netz aus poetischen Vergleichen, die des Lesers Aufmerksamkeit fordern und binden. Die vielen Metaphern der ersten Strophe sind „anfixend“, stimmen den neugierigen Leser ein. Beginnend mit der Klimax werden die zugezogenen Vergleiche sogar so stark, dass sie über eine lockere Illustration hinausgehen und Gesagtes neu definieren.

Die barock-typische Gedichtform Sonett wird auch hier eingesetzt, um Zerrissenheit klarer aufzuzeigen, einerseits existiert die Klage über ein schlechtes, leidvolles Leben, andererseits aber auch die Vergänglichkeit und Bedeutungslosigkeit des Lebens. In einer Sonett-typischen Synthese wird beides verbunden.

Wie gemeinhin üblich werden in den Quartetten auch hier zwei gegensätzliche Thesen ausgeführt. In der ersten Strophe findet die emotionale Klage über das menschliche Leben Ausdruck, Menschen seien „Ein Wohnhaus grimmer Schmerzen“ (Vers 1), [usw.]. Kontrovers dazu steht die These des zweiten Quartetts, „das Leben fleucht davon wie ein Geschwätz und Scherzen“ (Vers 5), die in der nächsten Strophe sogar noch ausgeweitet wird. Nicht nur hätte das Leben keinen tieferen Sinn, es spielt auch keine Rolle welchen gesellschaftlichen Stand Menschen innehätten, letztendlich müsse „auch unser Nam, Lob, Ehr und Ruhm verschwinden“ (Vers 11). Das letzte Terzett greift noch mal kurz den körperlichen Aspekt des Lebens auf, über den in der ersten Strophe geklagt wurde, „Was itzund Atem holt muss mit der Luft entfliehen“ (Vers 12), und den Aspekt des ewigen Kreislaufs des Vergessens aus Strophe zwei; „Was nach uns kommen wird, wird uns ins Grab nachziehen“ (Vers 13). Im letzten Vers kommt die Synthese beider Ansichten, „Wir vergehn wie Rauch von starken Winden“ (Vers 14). Diese ist hier sehr eng verknüpft mit dem einleitenden Ausruf „Was sind wir Menschen doch!“ (V.1), durch die Formulierung „Was sag ich?“ (Vers 14) wird dieser noch mal aufgegriffen. Sie liefert eine mit beiden Ansichten übereinkommende Antwort auf die zentrale Frage des Gedichtes.

Im Prinzip erzeugt Gryphius durch die Sonettform einen Scheinwiderspruch. Wie kann das Leben gleichzeitig so mühselig und geplagt und letztendlich aber in jeglicher Hinsicht bedeutungslos sein? Erschreckend allerdings, dass dies nicht unbedingt ein Widerspruch sein muss, sondern beides ergänzt sich tatsächlich gut, wie in der Synthese deutlich wird. So wird das diesseitige Leben gleich doppelt abgewertet.

Nach umfassender Gedichtanalyse ist vorab festzustellen: sehr subtil gestaltet Gryphius dieses Sonett. Alle analysierten Eigenschaften ergänzen sich, ihre Kombination kreiert eine starke Lenkung des Lesers. Durch logischen Beleg innerer Gedankengänge mit äußeren Vorgängen kann Gryphius seine Ansichten als allgemeingültig inszenieren. Metaphern in der ersten Strophe stimmen den Leser ebenso auf das Gedicht ein wie die durch Adjektive erzeugte, düstere Stimmung. Beides verliert sich allerdings im weiteren Verlauf, statt Metaphern werden stärkere Vergleiche eingesetzt, die, unterstrichen von der resignierenden Stimmung, die zentrale Botschaft des Gedichtes etablieren, dass das irdische Leben spur- und bedeutungslos vorübergeht. Eine solche tief greifende Botschaft hat naturgemäß hohen Wahrheitsanspruch, Gryphius wird dem gerecht, indem er sie vom lyrischen Ich als Mensch unter Menschen in einer Art philosophisch-rationalen Rede verkünden lässt. Auch der durch die Sonettform erzeugte Scheinwiderspruch wandelt sich in eine verstärkte Bestätigung dieser Botschaft, das irdische Leben wird doppelt abgewertet, da es mühselig und leidvoll ist, aber letztendlich spurlos vorbeigeht und bedeutungslos bleibt.

Überraschender Weise gelingt es Gryphius so auch heute noch, modernen, aufgeklärten Menschen einen wichtigen Denkanstoß zu geben. Sehen wir wirklich einen Sinn hinter unserem ungebremsten Immer-höher-hinaus-Wollens? Ist unser Karrierestreben mit den einhergehenden Symptomen wie Burn-out, ADHS, Asthma tatsächlich nicht eigentlich unsere „moderne“ Art, unser Leben hier auf Erden gehetzter zu machen? Viele Leute haben heute eine pessimistischere Lebenseinstellung als noch vor wenigen Jahren. Sehen wir wesentliche Dinge nicht mehr, wäre es nicht wohltuend, sich auf spirituelle Wurzeln zurückzubesinnen?

Beunruhigend ist auch, dass Gryphius bezüglich des kollektiven Vergessens Verstorbener heute immer noch recht hat. Getrauert wird oft nicht mehr als einen Monat, dann geht das Leben weiter als hätte es den Verstorbenen nie gegeben. Oder es muss weitergehen, damit die Zurückgebliebenen nicht vor lauter Trauer den Anschluss an das gesellschaftliche Treiben verlieren und auf der Strecke bleiben. Man kann also heute durchaus sagen, dass ein einzelner Mensch mit seinem Leben keine große Spur hinterlässt, mit Ausnahme vielleicht einiger wirklich großer Persönlichkeiten, die unsere Gesellschaft entscheidend weiter gebracht haben.

Alle Menschen dieser Erde zusammen werden aber tatsächlich Spuren hinterlassen, man denke an Überfischung der Meere oder an den anthropogenen Treibhauseffekt. Vielleicht werden deshalb künftige Generationen der Weltsicht Gryphius‘ immer noch zustimmen. Denn was im Barock der blutige Glaubenskrieg war, was heute für uns die Symptome unseres Karrierestrebens sind, werden für diese Menschen möglicherweise Klimakatastrophen, Kriege um sauberes Trinkwasser, Massenmigrationen sein.

Das Sonett von Gryphius umfasst also sowohl Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsaspekte und lässt wesentliche Umstände in seinem Leben mit einfließen. Der Autor verbrachte seine Kindheit, Jugend und Teile seines Erwachsenenseins im Dreißigjährigen Krieg. Dieser verwüstete weite Landstriche, brachte Tod, Elend und Krankheit. Der Krieg ist Erklärung für die negative Einstellung der Menschen in dieser Zeit, die sich aus dem Gedicht ableiten lässt. „Menschliches Elende“ ist ein gut ausgefeiltes Gedicht von Andreas Gryphius, der nicht umsonst einer der großen Vertreter des Barocks ist.

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