Das seltsame Sterben von Paul Haller

1	Laßt aus frohen Jugendtagen
2	Euch mein liebstes Leid berichten:
3	Seltsam Sterben eines Freundes,
4	Das in trauten Nachtgesichten
5	Jahrelang mit mir gewandert.
6	Eines Freundes, den ich liebte
7	Wie mich selber; den ich kannte,
8	Meine zweite Seele nannte.
9	Still auf eines Berges Knieen
10	Lag das Dörflein. Auf zum Haupte
11	Stieg der Knabe jenes Morgens,
12	Der sein junges Leben raubte.
13	Grünten nicht die Frühlingswälder?
14	Lag der Nebel nicht im Tale?
15	Glänzte nicht im Sonnenstrahle
16	Silbern die betaute Welt?
17	War es nicht ein heilger Morgen?
18	Abends fand man meinen lieben
19	Freund zerschmettert unterm Felsen.
20	Und die Rede ist geblieben
21	In des Dörfleins stillen Hütten,
22	Daß er Maienglöcklein suchte
23	Und am Felsen ausgeglitten.
24	— — — — — — — — —
25	Besser weiß ich’s, weil er selber
26	Oftmals mir’s im Traum gewiesen.
27	Und ich wußt es ohne Träume,
28	Weil’s mein Freund war, den ich kannte,
29	Meine zweite Seele nannte.
30	Keiner sah ihn je auf Bergen
31	Tollkühn klettern, lustig wagen.
32	Und an jenem klaren Morgen
33	Nicht nach Blumen stieg er einsam;
34	Nur die Sonne wollt er sehen,
35	Eh sie auf den Berg gestiegen!
36	Ja, dem Licht entgegenfliegen,
37	Daß er früher als die Berge
38	Aus den goldnen Bechern trinke,
39	Glühend an der höchsten Göttin
40	Lichtumwob’ne Knie sinke!
41	Denn so war er, so ein Träumer,
42	Der auf Wolken weltumreiste,
43	Der auf blauen Himmelswiesen
44	Blumen pflückte, Sterne küßte,
45	Nach dem Licht mit Händen griff!
46	Und das Träumen, das er büßte,
47	War die einz’ge große Freude
48	Die das Leben ihm beschieden
49	Neben seinem großen Leide.
50	Fragt ihr, wie es denn gekommen? –
51	Heimlich dämmerten die Tale.
52	An den Bäumen festgeklammert
53	Stand er droben, als die Sterne
54	Blaßten unterm hellern Strahle.
55	Leuchtend malte sich der Osten.
56	Herrlich wuchsen goldne Bäume
57	Aus der Nacht verträumten Tiefen,
58	Breiteten die Flimmeräste
59	Über Lande, die noch schliefen.
60	Und der Schöpfung kleinste Seele,
61	Jedes Blatt am tiefsten Strome,
62	Hob die Hände voll Verlangen,
63	Himmelsfrüchte zu empfangen.
64	Aber meines Freundes Seele
65	Wollte hoch ob allen andern
66	Durch die klaren Lüfte wandern
67	Und zuerst die Sonne sehen!
68	Und das Kind vergaß die Erde,
69	Löste kühn die schwachen Arme
70	Von den Bäumen, stand dort oben
71	Auf des Felsens höchster Kante,
72	Halb schon in die Luft gehoben. –
73	Und dann sprang er in den Himmel. – –
74	Freundlich trugen ihn die Lüfte,
75	Rauschend grüne Waldesgrüfte
76	Zogen meinen Freund ans Herz.
77	Ja, sein Leben und sein Lieben
78	Und sein seltsam schönes Sterben
79	Sind mein liebstes Leid geblieben.

Details zum Gedicht „Das seltsame Sterben“

Gedicht-Analyse

Dieses Gedicht stammt von Paul Haller und wurde im frühen 20. Jahrhundert, genauer gesagt zwischen dem späten 19. und dem frühen 20. Jahrhundert, verfasst.

Auf den ersten Blick ist das Gedicht traurig, aber gleichzeitig auch wunderschön, denn es behandelt die Thematik des tragischen Todes eines geliebten Freundes, der als „zweite Seele“ des lyrischen Ichs beschrieben wird. Das lyrische Ich teilt jedoch nicht nur seinen Kummer, sondern auch die Erinnerung an die Schönheit und Einzigartigkeit des Freundes sowie dessen tragischen, aber dennoch schönen Tod.

Das Gedicht erzählt die Geschichte eines Jungen, der in einem kleinen Dorf auf einem Berg lebte und der sehr früh am Morgen auf den Berg steigt, um die Sonne aufgehen zu sehen. Dabei fällt er tragisch vom Fels und stirbt. Jedoch wird im Gedicht angedeutet, dass der Junge den Sprung vielleicht selbst wählte, um näher zur Sonne, zu seinem angestrebten Licht, zu gelangen - ein metaphorisches Bild für sein Streben nach spiritueller oder transzendentaler Erleuchtung.

Die Form des Gedichts ist freier Vers, und es enthält eine Mischung aus kurzen und längeren Strophen, die eine besondere Dynamik und Rhythmik erzeugen. Der Ton des Gedichts ist melancholisch und zugleich feierlich. Ganz besonders sticht die Sprache des Gedichts hervor: Sie ist sehr bildreich und metaphorisch. Bilder wie „Wollte hoch ob allen andern / Durch die klaren Lüfte wandern“ oder „Und dann sprang er in den Himmel“ tragen zu dem feierlichen, fast mystischen Ton des Gedichts bei und verleihen den beschriebenen Begebenheiten und Emotionen Tiefe und Intensität.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Paul Haller in „Das seltsame Sterben“ den schmerzhaften Verlust eines Freundes und gleichzeitig die Schönheit und Einzigartigkeit dieses Freundes und seines Todes darstellt. Er nutzt reiche, bildliche Sprache und eine freie Versform, um diese intensiven und komplexen Emotionen auszudrücken. Das Gedicht ist ein eindrückliches Beispiel für Hallers Meisterschaft in der Verwendung von Sprache und Poesie, um tiefe menschliche Erfahrungen und Emotionen darzustellen.

Weitere Informationen

Paul Haller ist der Autor des Gedichtes „Das seltsame Sterben“. Der Autor Paul Haller wurde 1882 in Rein bei Brugg geboren. Zwischen den Jahren 1898 und 1920 ist das Gedicht entstanden. Aarau ist der Erscheinungsort des Textes. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Naturalismus zu. Bei Haller handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das 389 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 79 Versen mit insgesamt 8 Strophen. Der Dichter Paul Haller ist auch der Autor für Gedichte wie „Abend“, „Abseits (Haller)“ und „Adie Wält“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Das seltsame Sterben“ weitere 65 Gedichte vor.

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