An die Stille von Johann Christian Friedrich Hölderlin

Dort im waldumkränzten Schattentale
Schlürft ich, schlummernd unterm Rosenstrauch,
Trunkenheit aus deiner Götterschale,
Angeweht von deinem Liebeshauch.
Sieh, es brennt an deines Jünglings Wange
Heiß und glühend noch Begeisterung,
Voll ist mir das Herz vom Lobgesange,
Und der Fittig heischet Adlerschwung.
 
Stieg ich kühnen Sinns zum Hades nieder,
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Wo kein Sterblicher dich noch ersah,
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Schwänge sich das mutige Gefieder
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Zum Orion auf, so wärst du da;
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Wie ins weite Meer die Ströme gleiten,
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Stürzen dir die Zeiten alle zu,
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In dem Schoß der alten Ewigkeiten,
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In des Chaos Tiefen wohntest du.
 
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In der Wüste dürrem Schreckgefilde,
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Wo der Hungertod des Wallers harrt,
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In der Stürme Land, wo schwarz und wilde
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Das Gebirg im kalten Panzer starrt,
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In der Sommernacht, in Morgenlüften,
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In den Hainen weht dein Schwestergruß,
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Über schauerlichen Schlummergrüften
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Stärkt die Lieblinge dein Götterkuß.
 
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Ruhe fächelst du der Heldenseele
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In der Halle, wann die Schlacht beginnt,
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Hauchst Begeistrung in der Felsenhöhle,
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Wo um Mitternacht der Denker sinnt,
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Schlummer träufst du auf die düstre Zelle,
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Daß der Dulder seines Grams vergißt,
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Lächelst traulich aus der Schattenquelle,
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Wo den ersten Kuß das Mädchen küßt.
 
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Ha! dir träuft die wonnetrunkne Zähre
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Und Entzückung strömt in mein Gebein,
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Millionen bauen dir Altäre,
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Zürne nicht! auch dieses Herz ist dein!
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Dort im Tale will ich Wonne trinken,
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Wiederkehren in die Schattenkluft,
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Bis der Göttin Arme trauter winken,
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Bis die Braut zum stillen Bunde ruft.
 
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Keine Lauscher nahn der Schlummerstätte,
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Kühl und schattig ists im Leichentuch,
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Abgeschüttelt ist die Sklavenkette,
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Maigesäusel wird Gewitterfluch;
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Schöner rauscht die träge Flut der Zeiten,
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Rings umdüstert von der Sorgen Schwarm;
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Wie ein Traum verfliegen Ewigkeiten,
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Schläft der Jüngling seiner Braut im Arm.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (28.2 KB)

Details zum Gedicht „An die Stille“

Anzahl Strophen
6
Anzahl Verse
48
Anzahl Wörter
273
Entstehungsjahr
1770 - 1843
Epoche
Aufklärung,
Empfindsamkeit,
Sturm & Drang

Gedicht-Analyse

Der Autor des vorliegenden Gedichts ist Johann Christian Friedrich Hölderlin, einer der bedeutendsten deutschen Vertreter der literarischen Epoche der Romantik. Geboren wurde Hölderlin im Jahr 1770 und er verstarb 1843. Das Gedicht lässt sich zeitlich in das späte 18. oder frühe 19. Jahrhundert einordnen.

Auf den ersten Blick erscheint das Gedicht bildreich und voller Emotionen: Das lyrische Ich bewegt sich in einer Welt voller Schönheit und Leidenschaft, scheint einen Zustand der Ekstase oder Trunkenheit zu erfahren, getrieben von einer starken Liebe oder Begeisterung.

Der Inhalt des Gedichts zeigt das lyrische Ich in enger Verbindung mit der Natur und der Welt der Götter. Es scheint eine Art mystische Erfahrung zu haben, in der es in verschiedene Bereiche vordringt (Wald, Hades, Wüste, Gebirge, Schlachtfeld, Felsenhöhle, etc.) und dabei immer wieder auf die „Stille“ trifft, die als eine Art göttliche oder universelle Macht dargestellt wird. Das lyrische Ich wirkt gleichzeitig von dieser Macht angezogen und beseelt.

Formal besteht das Gedicht aus sechs Strophen, jede davon mit acht Versen. Die Sprache Hölderlins ist hochgestochen und bildreich, typisch für die Romantik. Auffällig sind die vielen mythologischen und antiken Bezüge (Hades, Orion, Götterschale, etc.). Das Gedicht ist zudem durchsetzt von Metaphern und Vergleichen („Voll ist mir das Herz vom Lobgesange, und der Fittig heischet Adlerschwung„; „In der Wüste dürrem Schreckgefilde„; „Ruhe fächelst du der Heldenseele in der Halle, wann die Schlacht beginnt„; etc.).

In seiner Gesamtheit scheint das Gedicht eine Ode an die Stille zu sein, die hier als mächtige, überall gegenwärtige Entität dargestellt wird, die Trost und Inspiration bringt und das lyrische Ich in einen Zustand der Ekstase versetzen kann. Es scheint sich die romantische Idee zu spiegeln, dass das Individuum in der Natur und im Übernatürlichen, in der Stille und Einsamkeit, eine Art höhere Wahrheit oder Erleuchtung finden kann.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „An die Stille“ des Autors Johann Christian Friedrich Hölderlin. Geboren wurde Hölderlin im Jahr 1770 in Lauffen am Neckar. Im Zeitraum zwischen 1786 und 1843 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm & Drang, Klassik, Romantik, Biedermeier oder Junges Deutschland & Vormärz zuordnen. Vor Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und daher anfällig für Fehler. Das 273 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 48 Versen mit insgesamt 6 Strophen. Die Gedichte „An die jungen Dichter“, „An unsre Dichter“ und „Das Schicksal“ sind weitere Werke des Autors Johann Christian Friedrich Hölderlin. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „An die Stille“ weitere 181 Gedichte vor.

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