Zuchthäusler von Hermann Löns

Geh nicht vorüber an den Armen
Mit kaltem Pharisäerblick,
Laß ihnen einen milden, warmen
Midleid'gen Liebesgruß zurück.
 
Denk, wenn du selbst zur Qual geboren,
In Schmutz und Schmach das Licht erblickt,
Ob du die Tugend dir erkoren
Und still dich in dein Los geschickt.
 
Durchblättre deines Herzens Falten,
10 
Durchkrame deiner Seele Spind,
11 
Viel Böses ist darin enthalten,
12 
Das Laster ist des Elends Kind.
 
13 
Stoß keinen Bettler von der Pforte
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In sein erbärmliches Geschick,
15 
Du hältst vielleicht mit einem Worte
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Von sichrer Untat ihn zurück.
 
17 
Es ist kein Mensch so schlecht auf Erden,
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Es ist kein Mensch so hoffnungsarm,
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Es kann ihm doch geholfen werden
20 
Von seiner Not und seinem Harm.
 
21 
Und liegst du in den letzten Zügen,
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Fällt dir vielleicht sein Dankblick ein,
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Sanft wird er in den Tod dich wiegen,
24 
Und leicht wird dir das Sterben sein.
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Zuchthäusler“

Anzahl Strophen
6
Anzahl Verse
24
Anzahl Wörter
138
Entstehungsjahr
1866 - 1914
Epoche
Realismus,
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das beurteilte Gedicht ist „Zuchthäusler“ von Hermann Löns, einem deutschen Schriftsteller und Lyriker, der von 1866 bis 1914 gelebt hat. Somit lässt sich das Gedicht in die Epoche der Moderne und genauer in die literarische Strömung des Naturalismus einordnen.

Bereits auf den ersten Blick fällt auf, dass das Gedicht eine bestimmte soziale Botschaft zu vermitteln scheint. Es richtet sich offenbar an Menschen, die an weniger Begünstigten vorbeigehen, und fordert zu mehr Mitgefühl und Verständnis auf.

In sechs Strophen mit jeweils vier Versen ruft das Gedicht dazu auf, mehr Mitleid mit Menschen zu zeigen, die in Armut und Elend leben. Das lyrische Ich mahnt den Leser, sich in deren Lage zu versetzen und zu bedenken, ob er nicht selbst in einer solchen Situation Schuld auf sich nehmen würde, um zu überleben. Es wird zudem klar, dass Schwäche und Sünde oft aus dem Leid und der Not heraus geboren werden, und jeder hat das Potenzial zur Sünde in sich, weswegen keiner das Recht hat, ärmere Menschen zu verurteilen.

Das Gedicht zeichnet sich durch eine Standardverseform aus, die sich durch alle Strophen zieht und einen ruhigen, reflektierenden Ton erzeugt. Die Sprache ist einfach und direkt und soll so sowohl die Herzen als auch die Köpfe der Leser erreichen. Löns macht von Metaphern Gebrauch, wie etwa in Vers 9 „Durchblättre deines Herzens Falten“ und in Vers 10 „Durchkrame deiner Seele Spind“, um das Infragestellen der eigenen moralischen Integrität zu illustrieren.

Zusammenfassend kann man sagen, dass „Zuchthäusler“ von Hermann Löns ein Plädoyer für Empathie und Menschlichkeit in einer Gesellschaft ist, in der die Armen oft übersehen und gemieden werden. Es erinnert uns daran, dass jeder von uns das Potenzial zu Fehlern hat und deshalb niemand das Recht hat, über andere zu urteilen, besonders nicht über jene, die weniger privilegiert sind als wir selbst.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Zuchthäusler“ des Autors Hermann Löns. 1866 wurde Löns in Kulm (Westpreußen) geboren. In der Zeit von 1882 bis 1914 ist das Gedicht entstanden. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Realismus, Naturalismus, Moderne oder Expressionismus zugeordnet werden. Die Richtigkeit der Epochen sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das 138 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 24 Versen mit insgesamt 6 Strophen. Die Gedichte „Abendlied“ sind weitere Werke des Autors Hermann Löns. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Zuchthäusler“ keine weiteren Gedichte vor.

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