Verklärte Nacht von Richard Dehmel

Zwei Menschen gehn durch kahlen, kalten Hain;
der Mond läuft mit, sie schaun hinein.
Der Mond läuft über hohe Eichen,
kein Wölkchen trübt das Himmelslicht,
in das die schwarzen Zacken reichen.
Die Stimme eines Weibes spricht:
 
Ich trag ein Kind, und nit von dir,
ich geh in Sünde neben dir.
Ich hab mich schwer an mir vergangen;
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ich glaubte nicht mehr an ein Glück
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und hatte doch ein schwer Verlangen
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nach Lebensfrucht, nach Mutterglück
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und Pflicht – da hab ich mich erfrecht,
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da ließ ich schaudernd mein Geschlecht
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von einem fremden Mann umfangen
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und hab mich noch dafür gesegnet.
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Nun hat das Leben sich gerächt,
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nun bin ich dir, o dir begegnet.
 
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Sie geht mit ungelenkem Schritt,
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sie schaut empor, der Mond läuft mit;
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ihr dunkler Blick ertrinkt in Licht.
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Die Stimme eines Mannes spricht:
 
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Das Kind, das du empfangen hast,
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sei deiner Seele keine Last,
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o sieh, wie klar das Weltall schimmert!
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Es ist ein Glanz um Alles her,
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du treibst mit mir auf kaltem Meer,
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doch eine eigne Wärme flimmert
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von dir in mich, von mir in dich;
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die wird das fremde Kind verklären,
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du wirst es mir, von mir gebären,
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du hast den Glanz in mich gebracht,
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du hast mich selbst zum Kind gemacht.
 
34 
Er faßt sie um die starken Hüften,
35 
ihr Atem mischt sich in den Lüften,
36 
zwei Menschen gehn durch hohe, helle Nacht.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.4 KB)

Details zum Gedicht „Verklärte Nacht“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
36
Anzahl Wörter
227
Entstehungsjahr
1896
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Dieses Gedicht mit dem Titel „Verklärte Nacht“ wurde von Richard Dehmel, einem deutschen Dichter und Schriftsteller geschrieben, der von 1863 bis 1920 lebte. Dehmel gehört zur Epoche des Symbolismus und der literarischen Moderne um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.

Der erste Eindruck des Gedichts ist geprägt von mystischer Stimmung und Naturmetaphorik. Es schildert eine nächtliche Szene, in der zwei Menschen durch einen kahlen, kalten Hain gehen und der Mond oben am Himmel steht. Die Frau teilt dem Mann mit, dass sie schwanger ist, jedoch nicht von ihm. Obwohl sie sichtlich von Schuld und Sünde gequält wird, reagiert der Mann auf ihre Geständnisse mit Verständnis und Liebe.

Dehmels Gedicht, überwiegend in freien Versen verfasst, ist in fünf Strophen mit einer unterschiedlichen Anzahl von Versen (6, 12, 4, 11, 3) unterteilt. Den Hauptteil der Handlung bilden Dialoge zwischen den beiden Protagonisten, das lyrische Ich tritt dabei nicht explizit in Erscheinung, es fungiert vielmehr als allwissender Erzähler. Dehmel nutzt lebendige, expressive Sprachbilder und Metaphern, um die Emotionen und Gedanken der Figuren zu vermitteln.

Im Zentrum der Erzählung steht ein moralisches Dilemma: Die Frau hat in ihrer Verzweiflung und ihrem Verlangen nach Liebe bei einem anderen Mann ein Kind gezeugt. Die Geständnisse der Frau sind geprägt von Schuldgefühlen und Selbstanklage. Sie fühlt sich für ihre 'Sünde' bestraft.

Der Mann reagiert jedoch unerwartet auf das Geständnis. Statt sie abzuweisen, nimmt er sowohl die Frau als auch das ungeborene Kind an. Er sieht das Kind nicht als Last, sondern als Chance, indem er erklärt, dass ihre beiderseitige Liebe das Kind „verklären“ würde. Er erkennt die Situation als eine Möglichkeit, Liebe, Akzeptanz und Verantwortung zu zeigen, und verspricht der Frau, dass sie das Kind für ihn gebären wird.

Zusammengefasst, „Verklärte Nacht“ ist ein berührendes Gedicht über Liebe und Vergebung. Es zeigt, dass wahre Liebe über gesellschaftliche Normen und moralische Urteile stehen kann. Dehmel gewährt den Lesern einen tiefen Einblick in die menschliche Seele und die wundersame, transformative Kraft der Liebe.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Verklärte Nacht“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Richard Dehmel. Geboren wurde Dehmel im Jahr 1863 in Wendisch-Hermsdorf, Mark Brandenburg. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1896 zurück. Erscheinungsort des Textes ist Berlin und Leipzig. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Dehmel handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 227 Wörter. Es baut sich aus 5 Strophen auf und besteht aus 36 Versen. Der Dichter Richard Dehmel ist auch der Autor für Gedichte wie „Ballade vom Volk“, „Bann“ und „Bastard“. Zum Autor des Gedichtes „Verklärte Nacht“ haben wir auf abi-pur.de weitere 522 Gedichte veröffentlicht.

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