Venus Urania von Richard Dehmel

Kommst du, Grollender?
tief von Unten?
Ueber Felsen und Wolken:
suchst du mich, im dunkeln Mantel Du,
schwarzgekrönter Wetterriese,
mit der bleiernen Stirne?
 
Höher doch! näher! herauf zu mir,
mir und meiner Sonne,
die hier mein zitternder Arm sich
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vom Himmel riß,
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die mich erleuchtet,
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von mir umglüht,
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sie meine Seele, ihr Leben ich,
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taumelnd versunken in Eine große
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einige, einzige Flammenwelt!
 
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Ja, du suchst uns,
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willst uns segnen,
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Du mit deinen Donnerorgelstürmen,
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willst empor zu Unsrer
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Flamme, Flammender Du!
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Sehnst dich, tief in Unser tiefes
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lichtes, allumstrickendes Glück zu blicken,
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auch ein Lichtkind,
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allverkettender Erschüttrer ... komm!
 
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Ja, ich
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kenne dich: du bist
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mein Bruder!
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Komm, tief schaue,
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tief auch Ich dir,
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tief durchs nächtige Auge,
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in dein heißes zuckendes Herz, das gute:
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Du wirfst Frucht,
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Liebe aufs schmachtende Feld herab,
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wenn du mit wuchtender Faust
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krachend zerbrichst
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das dumpf drückende Dunstbrett.
 
37 
Tobe nur, Kommender! nimm,
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hebe die splitternde Axt!
39 
Hebe die düstern,
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schönen,
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schattenumhangenen Lider!
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Grüße mich, du glühend,
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Ewigkeiten sprühend Auge:
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satt, ich will mich satt sehn, satt
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an dieser funkelnden Unendlichkeit!
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Auf, ihr schmetternden Lippen, jauchzt!
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aus eurem rollenden Donnersang rauscht mir
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das ewige Lied vom Samen der Sehnsucht,
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vom Krieg des Lebens: der Atem der Lust.
 
50 
Sonne, meine Sonne!
51 
weh – Er – stählerne
52 
Ströme sein Blick,
53 
über uns – brennend –
54 
Sonne, wo bist du –
55 
Licht – oh Sonne –
56 
stehn wir umklammert,
57 
stehn wir von blendenden,
58 
heißen, sausenden Wonnen umzuckt ...
 
59 
Sonne, mein zitterndes Licht!
60 
Lache! Nur den Baum,
61 
sieh, den Felsen nur
62 
traf sein zischendes Beil.
63 
Hörst du ihn jauchzen?
64 
über der klaffenden Buche,
65 
über den thalab polternden Trümmern,
66 
im flatternden Bart ihn
67 
jauchzen sein eisernes Lied:
68 
Weckender Tod,
69 
komm, reckend loht
70 
von Stamm zu Stamm die straalende Kraft,
71 
Einer stürzt, der tausend drückte!
72 
Stürzen die Ragenden, wachsen die Ringenden;
73 
tausend wachsen, Einer ragt!
74 
Tod-und-Leben-stammelnde Laute dröhnen,
75 
doch darunter schweigt der heil’ge
76 
Mund der Macht ...
 
77 
Greller doch, Blitze!
78 
spotte nur, Donner du!
79 
triff, zerbrich,
80 
was furchtsam zitternde Kronen trägt!
81 
Uns
82 
segnest du;
83 
uns
84 
prüftest du,
85 
Blut von Deinem Blut, mit heißen
86 
Fingern in deiner Flammentaufe.
87 
Wir
88 
sind fromm und heilig:
89 
mit gefeitem Diademe krönte
90 
uns die Liebe,
91 
unsre sonnenselige Liebe,
92 
zitternd von Wünschen und steiler Kraft!
 
93 
Oh, und trifft auch Uns,
94 
will ein Bruderopfer Deine Liebe:
95 
nimm uns! herrlich stürzen wir,
96 
vermählt verglühend in Deiner reinen,
97 
in unsrer eignen reinen Glut.
 
98 
Nein, wir fürchten dich
99 
nicht,
100 
rasend liebender Bruder!
101 
Wir
102 
sind stark wie Du:
103 
ich und meine Sonne,
104 
meine Lust und Seele,
105 
wir zwei Eines,
106 
Eines aller, aller Lust:
107 
wir lieben Alle:
108 
Alle müssen
109 
uns
110 
lieben ...
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (32.4 KB)

Details zum Gedicht „Venus Urania“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
110
Anzahl Wörter
417
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Autor des präsentierten Gedichts „Venus Urania“ ist Richard Dehmel, ein deutscher Dichter und Schriftsteller, der in der Zeit um den Wechsel vom 19. zum 20. Jahrhundert aktiv war. Vornehmlich ist er dem Naturalismus und Expressionismus zuzuordnen.

Auf den ersten Blick wirkt das Gedicht intensiv, voller Energie und Dynamik. Es scheint, als befände man sich inmitten eines emotionalen und kraftvollen Wirbelsturms.

Inhaltlich betrachtet geht es in dem Gedicht um ein lyrisches Ich, das in Kommunikation mit einer Art göttlichen oder übermenschlichen Wesen steht, was durch die Anrede „du“ und die vielen, starken Attribute, wie „schwarzgekrönter Wetterriese“ oder „Grollender“, unterstrichen wird. Ein starkes Thema des Gedichts scheint Liebe zu sein und die Unverzichtbarkeit von dieser für das lyrische Ich und sein sonnenähnliches (im Sinn von lebensspenderisch und lichtgebend) Gegenüber, repräsentiert durch wiederkehrende Bezugnahmen auf die Sonne und das Licht. Tiefergehend ist eine Bedrohung durch das adressierte göttliche Wesen spürbar, gegen die sich das lyrische Ich tapfer und stolz behauptet.

Formal ist das Gedicht in zehn Strophen unterschiedlicher Länge gegliedert. Es gibt keinen festen Reimschema oder Rhythmus, wodurch die verse stark miteinander verbunden wären, doch die Strophen selbst sind jeweils mit einander verknüpft, bauen aufeinander auf oder führen vorhergehende Gedanken fort.

Besonders auffallend ist die sprachliche Kraft und Intensität des Gedichts. Die Sprache ist voller Metaphern und Expressionen und wirkt sehr bildhaft. Worte wie „Donnerorgel“, „Flammenwelt“, „lichtes Glück“ oder „sonnenselige Liebe“ sind hier beispielhaft zu nennen. Sie erzeugen eine emotionale Tiefe und zeigen, wie sehr das lyrische Ich in seiner Welt gefangen ist und gleichzeitig danach strebt, sie zu überwinden. Dehmels Ausdrucksstärke und Wortwahl ziehen Leserinnen und Leser zu jedem Zeitpunkt in seinen Bann und halten sie in einer Welt fest, die zwar von Leidenschaft und Feuer geprägt ist, aber auch von Unruhe und Auseinandersetzung.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Venus Urania“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Richard Dehmel. Dehmel wurde im Jahr 1863 in Wendisch-Hermsdorf, Mark Brandenburg geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1893. In München ist der Text erschienen. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Moderne zuordnen. Der Schriftsteller Dehmel ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 417 Wörter. Es baut sich aus 10 Strophen auf und besteht aus 110 Versen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Richard Dehmel sind „Büßende Liebe“, „Chinesisches Trinklied“ und „Dann“. Zum Autor des Gedichtes „Venus Urania“ haben wir auf abi-pur.de weitere 522 Gedichte veröffentlicht.

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